Europäischer Filmpreis

Fünf Euro-Oscars: „Toni Erdmann“ triumphiert in Breslau

In Cannes wurde er gefeiert und ging leer aus: Nun räumt „Toni Erdmann“ beim Europäischen Filmpreis ab. Und nimmt Kurs auf den Oscar.

12.12.2016

Von MAGDI ABOUL-KHEIR

So sehen Filmpreis-Gewinner aus: Sandra Hüller, Maren Ade und Peter Simonischek. Foto: dpa

So sehen Filmpreis-Gewinner aus: Sandra Hüller, Maren Ade und Peter Simonischek. Foto: dpa

Breslau. Der Film scheint besser und besser zu werden“, witzelte Maren Ade, als sie am Samstagabend in Breslau mit „Toni Erdmann“ so richtig abräumte. Am Ende waren es fünf europäische Filmpreise, die ihre Tragikomödie gewann: als Bester Spielfilm, Ade als Regisseurin und Drehbuchautorin, Sandra Hüller als beste Schauspielerin, Peter Simonischek als bester Schauspieler.

Der Film scheint besser und besser zu werden: Damit beschreibt Ade genau die Dynamik der Erfolgsgeschichte, die im Mai beim Filmfestival in Cannes begonnen hatte. „Toni Erdmann“ hatte bei der Premiere acht Minuten Standing Ovations erhalten und die beste Cannes-Kritikerwertung aller Zeiten. Dass der Festival-Favorit dann bei der Palmen-Vergabe der Jury leer ausging und nur den Filmkritiker- Preis bekam, empfanden viele Beobachter als Skandal – aber Cannes war eben nur der Anfang.

Denn er trat trotzdem seinen Siegeszug an, dieser Film über einen älteren Mann, der sich mit alberner Perücke, falschen Zähnen und distanzlosem Auftreten in die titelgebende, unmögliche Figur verwandelt, damit seine Mitmenschen aus der Reserve lockt – und vor allem seiner entfremdeten Tochter, einer Unternehmensberaterin, die in Rumänien einen Millionen-Deal einzufädeln versucht, zu Leibe rückt.

„Toni Erdmann“ wurde in 55 Länder verkauft, unerhört für einen deutschen Arthouse-Film. Erstaunliche 736?000 Menschen sahen ihn in den deutschen Kinos. Zum Vergleich: Ades Beziehungsstück „Alle anderen“, vor sieben Jahren mit zwei Berlinale-Bären ausgezeichnet, fand weniger als 200?000 Besucher. Und nun der fünffache Triumph beim Europäischen Filmpreis im Nationalen Forum für Musik in Breslau, der Europäischen Kulturhauptstadt 2016, der Ade fast verlegen machte, sollte doch „die Vielfalt des Kinos gefeiert werden“.

Doch ist der Siegeszug von „Toni Erdmann“ noch nicht zu Ende. Er wird in den USA Filmpreise abräumen (den der New Yorker Filmkritiker hat er schon geholt), vor allem ist er ein Favorit auf den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Noch ist das Spekulation, überhaupt haben erst drei deutsche Filme diesen Oscar gewonnen („Die Blechtrommel“, „Nirgendwo in Afrika“, „Das Leben der Anderen“). Aber eine Nominierung scheint gewiss.

Doch weshalb wird „Toni Erdmann“ so gefeiert? Zunächst ist da seine Originalität: Was Ade erzählt und vor allem, wie sie es tut, ist von wundersamer Eigenart. Man kann den Film als Vater- Tochter-Drama bezeichnen und als Tragikomödie, beides trifft gewiss zu, aber dabei folgt er eben nicht Erzählkonventionen, weder der klassischer Familiengeschichten noch gängiger Komödien.

„Toni Erdmann“ benutzt keine Genre-Schablonen. Er besteht nicht aus dramaturgisch nutzbar gemachter Psychologie, sondern aus wahrhaftigen Gefühlen und Lebensbewegungen. Und so bleibt der Zuschauer neugierig, ja gebannt, weil er tatsächlich nicht weiß, was als nächstes passiert. Wie im richtigen Leben.

Einen Nerv getroffen

Und das führt zum zweiten Punkt, weshalb der Film einen Nerv trifft. Er beschenkt diejenigen, die sich auf diese 162 Minuten einlassen, mit einer empathischen Erfahrung. Sie erleben mit, wie dieser Mann mit seiner lächerlichen Maskierung die Welt um ihn herum nach und nach kenntlich macht: ihre Oberflächlichkeit, ihre Untiefen, ihre Armseligkeit. Ja, diese melancholische Komödie, in der man so befreit lachen kann – die Nacktparty-Sequenz wirkt geradezu kathartisch –, ist von einer tiefen Traurigkeit. Weil am Ende eben keiner mehr Anderen etwas vormachen kann. Weil sich die Konflikte nicht in einem verlogenen Happy End auflösen. Und weil diese Dualität von Komik und Schmerz, die „Toni Erdmann“ vermittelt, ein Stück authentisches Erleben ist, wie sie das Kino, überhaupt die Kunst, nur selten erfahrbar macht. Humor und Verzweiflung mischen sich, aus Fremdschämen entsteht Selbsterkenntnis.

Die gebürtige Karlsruherin Ade, die heute ihren 40. Geburtstag feiert, mit dem Regisseur Ulrich Köhler und ihren Kindern in Berlin lebt, lässt ihre Stoffe reifen. Nach ihrem Studium an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen hat sie zwar etliche Streifen produziert, aber nur drei eigene geschrieben und inszeniert: ihre Abschlussarbeit „Der Wald vor lauter Bäumen“ (2003), „Alle anderen“ (2009) und eben „Toni Erdmann“.

Der entstand über mehr als sechs Jahre, mit langer Recherche. Bei den Dreharbeiten mit den famosen Theaterprofis Simonischek und Hüller entstand mehr als 120 Stunden Material. Schnitt und Postproduktion zogen sich hin, erst vier Tage vor Cannes wurde der Film fertig.

Aber all das hat sich gelohnt. Für Maren Ade, die nun einen Preis nach dem anderen gewinnt. Und für Filmfans, die „Toni Erdmann“ haben.