Für jede Gosch a eiges Brot

Sein Hefezopf und sein Besenbrot gehen weg wie seine warmen Semmeln. In der Freizeit schraubt und lötet der Unterjesinger Bäcker Karl Heinz Stickel an seinem alten Benz, kultiviert Himbeeren und Wassermelonen und lässt sich für seine Kunden neues Backwerk einfallen.

05.03.2021

Von TEXT: Ghita Kramer-Höfer|FOTO: Erich Sommer

Damit alle Backwaren rechtzeitig fertig sind, wenn morgens gegen sieben Uhr die ersten Kunden kommen, bäckt Karl Heinz Stickel mitunter die ganze Nacht hindurch.

Damit alle Backwaren rechtzeitig fertig sind, wenn morgens gegen sieben Uhr die ersten Kunden kommen, bäckt Karl Heinz Stickel mitunter die ganze Nacht hindurch.

Es duftet verführerisch nach frischem Hefezopf, nach Weckle und Besenbrot, wenn man am Freitagmorgen, dem Hauptbacktag, die Unterjesinger Bäckerei Stickel betritt. In der kleinen Verkaufstheke liegt schon alles bereit, während nebenan in der Backstube Bäcker Karl Heinz Stickel noch wirbelt, knetet, schlingt und bäckt.

Wer einen der beliebten Hefezöpfe mit oder ohne Rosinen ergattern möchte, sollte früh dransein. 30 große und ein paar kleine schafft Karl Heinz Stickel in einer Nacht, dazu rund 20 Nusszöpfe, 120 Brote, 1000 Weckle, 100 süße Stückle und natürlich seine Brezeln. 15 bis 20 davon schlingt er pro Minute. Von Hand, versteht sich.

Seine Stammkunden rufen ihm gern einen Gruß in die Backstube hinunter, fünf Stufen tiefer gelegen als der Laden. „Früher war hier der Kuhstall, im Laden standen die Gäule“, weiß Stickel. Zur Bäckerei umgebaut wurde das Erdgeschoss in den 1940er-Jahren. Aus dieser Zeit stammen auch nahezu alle Maschinen und Öfen, denen Karl Heinz Stickel im Ein-Mann-Betrieb jeden Donnerstag bis Sonntag sein knuspriges Backwerk entlockt.

Kfz-Mechaniker wollte er werden. „Aber als Bub hab ich immer so gefroren“, erzählt er. „Da hat die Mutter gesagt: ‚In der Backstub‘, do isch‘s warm, no wirsch halt Bäck‘.“ Damit war die Berufswahl geklärt.

Lehre und erste Gesellenjahre absolvierte Stickel in Tübingen. Jeden Morgen gegen halb drei Uhr machte er sich mit dem Fahrrad auf den Weg. Mit den Kollegen kam er gut zurecht, doch noch lieber wollte er sein eigener Herr sein. „Chef sein!“, schwärmt er, „das war mein Traum. Aber nicht: den Chef raushängen!“

1979 war es soweit: Der Unterjesinger Bäcker Schnaith war gestorben, die Backstube stand leer und die Kunden wollten Brot und Weckle. Stickel übernahm und ließ erst einmal alles, wie es war. „Ich hab mich der Kundschaft angepasst, das mach ich heute noch.“

Drei Brotsorten gab es: helles, dunkles und Mischbrot. Dazu vier Sorten Weckle. Heut kann Karl Heinz Stickel die Brotsorten, die er jede Woche bäckt, kaum mehr aufzählen. Mischbrot, Weiß- und Vollkornbrot, Bauernbrot, Dinkelbrot, Körner- und Kartoffelbrot: „Heut braucht jo jede Gosch a eiges Brot!“, kommentiert er lakonisch. Und bäckt, was den Kunden schmeckt und was gewünscht wird.

Als sich beispielsweise vor vielen Jahren ein Besenwirt aus Breitenholz für seine Gäste ein besonderes Brot wünschte, stand Stickel in seiner Backstube und überlegte. „Ich hatte noch Quark und Joghurt im Kühlschrank, die hab ich dann einfach in den Teig rein“, erzählt er und grinst spitzbübisch. „Dann hab‘ ich’s besonders lange ruhen lassen.“ Daraus entstand das „Besenbrot“, bis heute der absolute Renner neben dem Stickel’schen Hefezopf.

Seine Dinkelbrezeln wurden ebenfalls eher zufällig zum Verkaufsschlager: Stickel buk wöchentlich ein paar für einen Kumpel. Zwei oder drei fanden jeweils den Weg hinter die Ladentheke und kamen bei den Kunden so gut an, dass aus dem Freundschaftsdienst eine Sortimentserweiterung wurde.

Auf vorgefertigte Sachen verzichtet der Unterjesinger Bäcker nach anfänglichen Pleiten lieber: „Quarkfüllungen aus der Packung schmecked wie ei‘gschlofne Fiaß!“, grantelt er. Nach kurzer Rücksprache seinerzeit mit der Mutter griff der frisch gebackene Bäckerei-Chef dann doch lieber zu frischem Quark und frischen Eiern. Die Kunden waren‘s zufrieden und sind es bis heute.

Eine ganze Kiste Äpfel wartet am backfreien Mittwoch aufs Schälen und Kleinschneiden, daneben steht, randvoll, eine große Schüssel gemahlener Mandeln. Apfelballen gibt es am Donnerstag, der Chef schält und schnippelt selber. Wie er sowieso alles selbst macht – ist ja keiner da sonst. Nur im Verkaufsraum, da hat er Hilfe. Vier Frauen wechseln sich im Bedienen der Kunden ab. „Ich weiß nie, wer kommt, Hauptsache, es isch immer jemand da!“

Als vor einigen Jahren die Nachfrage nach Backwaren zum Wochenanfang nachließ, reduzierte Stickel die Öffnungszeiten. Montag bis Mittwoch ist nun zu. Am Donnerstag, Freitag und Sonntag beginnt Karl Heinz Stickels Arbeitstag um 3.30 Uhr mit Teigmischen und Ofen anheizen. Der Samstag startet für den Bäcker sogar bereits am Freitagabend: Da mischt, knetet und bäckt Karl Heinz Stickel von 23 bis acht Uhr durch. Sind bis zur Öffnung der Bäckerei um 7 Uhr noch nicht alle Weckle und Brote fertig, hört Stickel schon mal einen blöden Spruch von seinen Kunden. „Na, hosch verschlofa?“

Ein Namensschild sucht man an der Bäckerei übrigens vergeblich. „Das ist irgendwann mal runtergeflogen“, erzählt der Bäcker lachend. Nicht weiter tragisch, die Unterjesinger gehen sowieso alle „zum Karl Heinz“.

Seinen Beruf mag er noch immer gern. „Wenn ich irgendwas Unangenehmes machen muss, sag ich immer ‘Da hätt‘ ich jetzt lieber 1000 Weckle g‘macht!‘“ Doch Stickel kennt auch die Schattenseiten: „Ich hatte in meiner ganzen Bäckerlaufbahn ein einziges Mal am Karfreitag frei. An Weihnachten und Silvester noch nie.“

Durch die verringerten Öffnungstage der Bäckerei hat er Zeit für sein Hobby, seinen Benz, Baujahr 1972. „Mein erstes Auto!“, erzählt er stolz. An ihm schraubt und werkelt er mit Hingabe und hält den Oldtimer in Schuss. Im Sommer ist der Garten dran. Obst und Gemüse wächst dort, direkt hinter der Bäckerei. Wenn die Himbeeren für die Marmelade reichen und die Wassermelonen zu ungeahnter Größe wachsen, freut‘s ihn. In guten Apfeljahren macht er Saft, das können dann schon mal bis zu 100 Bag in Box-Kistchen sein. „Nicht mehr jede Nacht in der Backstube stehen zu müssen, hat auch Vorteile!“

Dass er irgendwann einen Nachfolger für seine Bäckerei finden wird, daran glaubt Stickel nicht. „Dazu ist die Lage an der Hauptstraße, ohne eigene Parkplätze, zu ungünstig und auch die Kunden werden weniger.“ Der Jüngste sei er zudem auch nicht mehr: „Immerhin bin ich bald 69“, stellt er fest. An’s Aufhören denkt Stickel dennoch nicht. „Ich mach weiter, so lange es geht“, tröstet er sich selbst und seine Kunden und schlingt munter weiter seine Brezeln, damit er rechtzeitig fertig wird, bevor die ersten Frühaufsteher kommen.

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Erstellt:
05.03.2021, 07:17 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 07sec
zuletzt aktualisiert: 05.03.2021, 07:17 Uhr

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