Kino

Gefilmte Wirklichkeiten

Das Dok-Fest München streamt derzeit online. Nach dem „Lovemobil“-Skandal stellt sich die Frage: Wie weit dürfen Dokumentarfilmer die Realität inszenieren?

10.05.2021

Von Jana Zahner mit dpa

Eine Prostituierte sitzt in einer Filmszene in einem sogenannten „Lovemobil“. Der Dokumentarfilm von Elke Margarete Lehrenkrauss sorgt in der Branche für Diskussionen  die Regisseurin hatte Szenen nachgestellt, ohne dies zu kennzeichnen. Foto: Christoph Rohrscheidt/dpa

Eine Prostituierte sitzt in einer Filmszene in einem sogenannten „Lovemobil“. Der Dokumentarfilm von Elke Margarete Lehrenkrauss sorgt in der Branche für Diskussionen die Regisseurin hatte Szenen nachgestellt, ohne dies zu kennzeichnen. Foto: Christoph Rohrscheidt/dpa

Bay und Tam sind vor 30 Jahren nach Deutschland geflüchtet, trotzdem spielt sich fast ihr gesamtes Leben weiterhin in Vietnam ab. Das Ehepaar ist im ständigen Kontakt mit Verwandten, die das Familienleben so gut es geht via Skype nach Deutschland übertragen – von der Freude über ein Neugeborenes bis zur Trauer am Totenbett. Der Dokumentarfilm „Mein Vietnam“ kreist um das Thema „Heimat“ und ist immer ganz nah an den Protagonisten. Wenn Bay die Tränen über das Gesicht laufen, meint der Zuschauer, mit am Küchentisch zu sitzen. Gedreht hat den Film Tim Ellrich, Student an der Filmakademie Baden-Württemberg. „Mein Vietnam“ ist eine von 131 Produktionen, die das Dok-Fest München derzeit in seiner Onlineausgabe zeigt.

Dem Zuschauer intime und überraschende Einblicke in fremde Welten geben: Davon lebt das Genre. Doch was ist in den Filmen Realität, was Inszenierung? „Jede filmische Annäherung an die Wirklichkeit führt zu einer Interpretation der Wirklichkeit“, sagt der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, David Bernet. „Sie basiert auf dramaturgischen Entscheidungen und guter Recherche, aber oft auch auf viel Zeit.“

Allein schon durch ihre Präsenz beeinflusst eine Kamera das Geschehen. Vor einem Dilemma steht der Filmemacher, wenn sich entscheidende Momente nicht einfangen lassen.

Der Film „Lovemobil“ über Prostituierte auf einem Straßenstrich in Niedersachsen hat kürzlich Wirbel in der Branche verursacht. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) nahm ihn aus seiner Mediathek, da zentrale Protagonistinnen nicht persönliche Erfahrungen schilderten, sondern eine Rolle spielten.

Szene aus „Mein Vietnam“. Der Dokumentarfilm der Regisseure Thi Hien Mai und Tim Ellrich, Student an der Filmakademie Baden-Württemberg, ist derzeit beim Dok-Fest München zu sehen. Foto: Dok-Fest München

Szene aus „Mein Vietnam“. Der Dokumentarfilm der Regisseure Thi Hien Mai und Tim Ellrich, Student an der Filmakademie Baden-Württemberg, ist derzeit beim Dok-Fest München zu sehen. Foto: Dok-Fest München

Situationen seien nachgestellt oder inszeniert, hieß es. Die Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss gab zu, einzelne Erlebnisse mit Darstellerinnen nacherzählt zu haben, um die betroffenen Frauen zu schützen oder weil Aufnahmen nicht möglich gewesen seien. Ihr Fehler sei gewesen, das nicht zu kennzeichnen. Den Deutschen Dokumentarfilmpreis gab Lehrenkrauss zurück.

Der Skandal ist auch Thema beim Dok-Fest, wo der Film 2019 im Programm lief. Man habe Lehren aus dem Fall gezogen, sagt Festivalleiter Daniel Sponsel. Die Jury schaue genauer hin und stelle bei Verdachtsmomenten Rückfragen an die Filmemacher.

Eine Überprüfung jeder Produktion sei bei mehr als 100 Filmen jedoch nicht zu leisten. „Es können nicht alle Filme unter Generalverdacht stehen“, findet Sponsel. Und: „Der Dokumentarfilm muss gewisse darstellerische Freiheiten haben, weil er die Wirklichkeit interpretiert.“

Wie weit reicht diese Freiheit? Solange das Werk seine Machart offenlege – ziemlich weit, sagt Sponsel. Was vertretbar sei, hänge auch vom Sujet ab. Das Genre sei extrem vielfältig und der Begriff „Dokumentarfilm“ demgegenüber unpräzise. „Dokumentarfilm gleich Dokument – so ist es oft nicht.“ Zumal häufig nicht der Filmemacher selbst sein Werk als „Doku“ bezeichne – sondern der Zuschauer und die Presse.

Struktur einer Liebestragödie

Am diesjährigen Preisträger des Dokumentarfilm-Oscars lässt sich die Vielfalt der Herangehensweisen gut verdeutlichen. Der Film „Mein Lehrer, der Krake“ stellt von Anfang an das subjektive Erleben des Produzenten und Protagonisten Craig Foster in den Vordergrund. Unzählige Tauchgänge werden zu einem 90-minütigem Film verdichtet, der in seiner Struktur einer tragischen Liebesgeschichte ähnelt.

Der Dokumentarfilm „Lovemobil“ von Elke Lehrenkrauss portraitiert Prostituierte aus Osteuropa und Nigeria. Foto: WDR/NDR/Christoph Rohrscheidt/dpa

Der Dokumentarfilm „Lovemobil“ von Elke Lehrenkrauss portraitiert Prostituierte aus Osteuropa und Nigeria. Foto: WDR/NDR/Christoph Rohrscheidt/dpa

Neben Einblicken in das Leben der Meeresbewohner zeigt der Film vor allem, was die Begegnungen mit einem Krakenweibchen bei dem in einer Lebenskrise steckenden Foster auslösen. Der Film will emotional berühren und hat damit offenkundig einen anderen Anspruch als etwa „Hinter den Schlagzeilen“ (Regie: Daniel Andreas Sager). Der Eröffnungsfilm beim diesjährigen Dok-Fest begleitet Investigativjournalisten hinter der „Ibiza-Affäre“.

Beim Dokumentarfilm gebe es seit Jahren einen Trend zu mehr Ästhetisierung und einer geschlossenen Dramaturgie, sagt Sponsel. „Das sollten wir nicht von jedem Film erwarten.“ Das Dok-Fest rücke bewusst Filmemacher ins Rampenlicht, die ergebnisoffen und streng dokumentarisch arbeiten.

Ellrich hat „Mein Vietnam“ über vier Jahre hinweg mit seiner Freundin Thi Hien Mai gedreht – sie ist die Tochter der Protagonisten. Dass er so Einblicke in das Leben eines Paares geben konnte, das sich in ein virtuelles Vietnam flüchtet, fast kein Deutsch spricht und von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen wird, sieht er als Chance, für Verständigung zu sorgen. „Je näher man den Protagonisten kommen kann – umso besser.“

Eigentlich habe am Beginn des Projekts die Frage gestanden, wie Technik unsere Lebensrealität verändere. Was im Lauf des Drehs passieren würde – Bay und Tam verlieren eine nahe Verwandte und ihr Haus in Vietnam wird zerstört?– konnten die Regisseure nicht vorhersehen. Für Ellrich gehört der Abschied von eigenen Erwartungen und das Scheitern zum Dokumentarfilmen dazu. „Man kommt von dem, was man denkt, zu dem, was ist.“

131 Filme beim digitalen Filmfestival

Das Dok-Fest München zeigt seine 131 Filme aus 43 Ländern noch bis zum 23. Mai online unter www.dokfest-muenchen.de, dazu gibt es ein Liveprogramm aus Workshops und Diskussionsrunden. Sowohl Einzeltickets als auch einen Festivalpass für das gesamte Programm gibt es zu kaufen. Dieses teilt sich in Sektionen: Gastland ist Kanada, zu den Sonderreihen des Dok-Fests gehört die „Retrospektive 75 Jahre DEFA-Dokumentarfilm“, die mit neun Filmen bedeutender Regisseure das DDR-Alltagsleben erkundet.

Die Festivalhommage ist Helena Trestikova gewidmet. Beim Festival werden 16 Preise mit insgesamt 64?000 Euro verliehen.

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Erstellt:
10.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 34sec
zuletzt aktualisiert: 10.05.2021, 06:00 Uhr

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