Kino
Gefilmte Wirklichkeiten
Das Dok-Fest München streamt derzeit online. Nach dem „Lovemobil“-Skandal stellt sich die Frage: Wie weit dürfen Dokumentarfilmer die Realität inszenieren?
Dem Zuschauer intime und überraschende Einblicke in fremde Welten geben: Davon lebt das Genre. Doch was ist in den Filmen Realität, was Inszenierung? „Jede filmische Annäherung an die Wirklichkeit führt zu einer Interpretation der Wirklichkeit“, sagt der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, David Bernet. „Sie basiert auf dramaturgischen Entscheidungen und guter Recherche, aber oft auch auf viel Zeit.“
Allein schon durch ihre Präsenz beeinflusst eine Kamera das Geschehen. Vor einem Dilemma steht der Filmemacher, wenn sich entscheidende Momente nicht einfangen lassen.
Der Film „Lovemobil“ über Prostituierte auf einem Straßenstrich in Niedersachsen hat kürzlich Wirbel in der Branche verursacht. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) nahm ihn aus seiner Mediathek, da zentrale Protagonistinnen nicht persönliche Erfahrungen schilderten, sondern eine Rolle spielten.
Der Skandal ist auch Thema beim Dok-Fest, wo der Film 2019 im Programm lief. Man habe Lehren aus dem Fall gezogen, sagt Festivalleiter Daniel Sponsel. Die Jury schaue genauer hin und stelle bei Verdachtsmomenten Rückfragen an die Filmemacher.
Eine Überprüfung jeder Produktion sei bei mehr als 100 Filmen jedoch nicht zu leisten. „Es können nicht alle Filme unter Generalverdacht stehen“, findet Sponsel. Und: „Der Dokumentarfilm muss gewisse darstellerische Freiheiten haben, weil er die Wirklichkeit interpretiert.“
Wie weit reicht diese Freiheit? Solange das Werk seine Machart offenlege – ziemlich weit, sagt Sponsel. Was vertretbar sei, hänge auch vom Sujet ab. Das Genre sei extrem vielfältig und der Begriff „Dokumentarfilm“ demgegenüber unpräzise. „Dokumentarfilm gleich Dokument – so ist es oft nicht.“ Zumal häufig nicht der Filmemacher selbst sein Werk als „Doku“ bezeichne – sondern der Zuschauer und die Presse.
Struktur einer Liebestragödie
Am diesjährigen Preisträger des Dokumentarfilm-Oscars lässt sich die Vielfalt der Herangehensweisen gut verdeutlichen. Der Film „Mein Lehrer, der Krake“ stellt von Anfang an das subjektive Erleben des Produzenten und Protagonisten Craig Foster in den Vordergrund. Unzählige Tauchgänge werden zu einem 90-minütigem Film verdichtet, der in seiner Struktur einer tragischen Liebesgeschichte ähnelt.
Beim Dokumentarfilm gebe es seit Jahren einen Trend zu mehr Ästhetisierung und einer geschlossenen Dramaturgie, sagt Sponsel. „Das sollten wir nicht von jedem Film erwarten.“ Das Dok-Fest rücke bewusst Filmemacher ins Rampenlicht, die ergebnisoffen und streng dokumentarisch arbeiten.
Ellrich hat „Mein Vietnam“ über vier Jahre hinweg mit seiner Freundin Thi Hien Mai gedreht – sie ist die Tochter der Protagonisten. Dass er so Einblicke in das Leben eines Paares geben konnte, das sich in ein virtuelles Vietnam flüchtet, fast kein Deutsch spricht und von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen wird, sieht er als Chance, für Verständigung zu sorgen. „Je näher man den Protagonisten kommen kann – umso besser.“
Eigentlich habe am Beginn des Projekts die Frage gestanden, wie Technik unsere Lebensrealität verändere. Was im Lauf des Drehs passieren würde – Bay und Tam verlieren eine nahe Verwandte und ihr Haus in Vietnam wird zerstört?– konnten die Regisseure nicht vorhersehen. Für Ellrich gehört der Abschied von eigenen Erwartungen und das Scheitern zum Dokumentarfilmen dazu. „Man kommt von dem, was man denkt, zu dem, was ist.“
131 Filme beim digitalen Filmfestival
Das Dok-Fest München zeigt seine 131 Filme aus 43 Ländern noch bis zum 23. Mai online unter www.dokfest-muenchen.de, dazu gibt es ein Liveprogramm aus Workshops und Diskussionsrunden. Sowohl Einzeltickets als auch einen Festivalpass für das gesamte Programm gibt es zu kaufen. Dieses teilt sich in Sektionen: Gastland ist Kanada, zu den Sonderreihen des Dok-Fests gehört die „Retrospektive 75 Jahre DEFA-Dokumentarfilm“, die mit neun Filmen bedeutender Regisseure das DDR-Alltagsleben erkundet.
Die Festivalhommage ist Helena Trestikova gewidmet. Beim Festival werden 16 Preise mit insgesamt 64?000 Euro verliehen.