Übrigens…

Gestohlene Wartezeit

Niemand wartet gern. Dennoch verbringen wir fünf Jahre unseres Lebens mit Warten, habe ich gelesen. Wir warten auf den Bus, den Zug, beim Bäcker, Arzt, an der Ampel, der Ecke und in der Telefonschleife. Warten auf irgendetwas, auf irgendjemanden. Es gibt Menschen, die warten sogar doppelt: während sie selbst anstehen, um Konzertkarten zu ergattern, zahlen sie andere dafür, die vor dem Apple-Laden warten.

28.04.2016

Von Manfred Hantke

Warten ist verlorene Zeit, meint so mancher. Zum unmittelbaren Warten kommt noch das Warten auf die baldige Erfüllung von Wünschen und Hoffnungen hinzu: auf einen Sechser im Lotto, auf den Urlaub, vielleicht auf einen Odysseus oder gar auf Godot.

Das Warten hat Sergio Leone in seinem Kult-Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ meisterlich inszeniert. Da sind die drei Halunken am Bahnhof. Sie warten auf „Mundharmonika“. Einer lässt sich Wasser aus einer Regenrinne in seinen Hut tröpfeln, macht nach endloser Zeit einen kräftigen Schluck; ein anderer fängt mit dem Lauf seines Colts eine Fliege, der Dritte lässt seine Finger knacken. Sinnlose Dinge, die sie während des Wartens auf ihren eigenen Tod tun.

Relativ entspannt wartet Farmer Mc Bain. Er hat sich in der Wüste ein Stück Land gekauft. Denn er weiß: eines Tages wird die Eisenbahn genau an seiner Farm Sweetwater vorbeirauschen. Sie muss dort vorbei, denn sie braucht Wasser. Blöd nur, dass auch die Banditen das wissen.

Überhaupt nicht warten kann hingegen der Eisenbahnchef Morton. Er ist todkrank, will aber unbedingt seinen Traum verwirklichen und die Bahnstrecke bis zum Pazifik bringen. So kommen alle während des Wartens um, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.

Nur der Held nicht. „Mundharmonika“ hat sich mit dem Warten arrangiert, er nimmt nicht einmal die erstbeste Chance wahr, um sich am fiesen Frank zu rächen, der seinen Vater getötet hat. Er rettet ihm sogar das Leben, erschießt dessen eigene Leute, die ihn töten wollten. „Mundharmonika“ allein entscheidet, wann genug gewartet worden ist. Er weiß: „Irgendeiner wartet immer.“ Heute, morgen, übermorgen.

Als ich kürzlich an der Kasse beim Supermarkt stand, den Wagen halb voll, der Zeit mal wieder hinterher, ließ mich ein Bekannter vor, obwohl er nur vier Teile auf dem Arm hatte. Er habe gerade einen Gedanken, sagte er, den wolle er noch ein wenig weiterdenken. Er warte gern. Denn hinter der Kasse stürze er wieder in die gewöhnliche Alltags-Hektik: rein ins Auto, ab nach Hause und dann an den Schreibtisch. Er wolle die von mir gestohlene Wartezeit genießen und seinem Gedanken noch eine neue Wendung geben.

Nachdem ich bezahlt hatte, wollte ich mich noch einmal bedanken und mich verabschieden. Doch mein Bekannter stand nicht mehr hinter mir. Er hatte zwei weitere Kunden an sich vorbeiziehen lassen. Er muss einen schönen Gedanken gehabt haben.

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Erstellt:
28.04.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 15sec
zuletzt aktualisiert: 28.04.2016, 01:00 Uhr

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