Ehrenbürger Gmelin · Im Sinne des Regimes gehandelt

Großes Interesse am Zwischenbericht über die Biografie des früheren Tübinger OB Hans Gmelin

Das Interesse war groß, als am Donnerstagnachmittag der Zwischenbericht über Hans Gmelin im Kulturausschuss vorgelegt wurde. Etwa 70 Interessierte kamen in den Ratssaal, wollten hören, was es mit der NS-Vergangenheit des einstigen Oberbürgermeisters (1955 – 1975) auf sich hat, dem der Gemeinderat am 3. Januar 1975 die Ehrenbürgerwürde Tübingens verlieh.

15.07.2017

Von Manfred Hantke

Nachdem der Tübinger Gemeinderat Hans Gmelin am 3. Januar 1975 das Ehrenbürgerrecht verliehen hatte, hängte Staatssekretär Gerd Weng dem scheidenden OB das Große Bundesverdienstkreuz um. Archivbild: Grohe

Nachdem der Tübinger Gemeinderat Hans Gmelin am 3. Januar 1975 das Ehrenbürgerrecht verliehen hatte, hängte Staatssekretär Gerd Weng dem scheidenden OB das Große Bundesverdienstkreuz um. Archivbild: Grohe

Mit Blick auf die 2013 vollzogenen Aberkennungen der Ehrenbürgerwürde des Ex-Oberbürgermeisters Adolf Scheef und des Philosophieprofessors Theodor Haering machte Kulturamtsleiterin Dagmar Waizenegger deutlich: das war kein juristischer Akt, sondern ein politisches Zeichen. Aufgrund der besonderen Stellung von Gmelin habe man dessen Biografie wissenschaftlich aufarbeiten lassen, um dem Gemeinderat eine Entscheidungsgrundlage zu geben.

Gesandte trugen zum Gelingen bei

Den Zwischenbericht gaben dann der Doktorand Niklas Krawinkel und sein in Marburg lehrender Doktorvater Eckart Conze, Professor für Neueste Geschichte. An den grundlegenden Erkenntnissen ändere sich aber nichts, so Krawinkel.

13, 14 Archive habe er durchgearbeitet, sagte Krawinkel. In der Slowakei war er „wochenlang beschäftigt“. Tagebücher oder persönliche Briefe, in denen sich andere über Gmelin äußerten, habe er nicht gefunden. Die Familie sagte, so etwas gebe es auch nicht. Sie habe „Hals über Kopf“ die Slowakei verlassen und alles zurückgelassen, auch persönliche Korrespondenz. Nach 1949 gebe es jedoch „Zeugnisse wie Sand am Meer“, ergänzte Conze.

So gab’s also „nur“ eine ganze Menge Archivarbeit für Krawinkel. Danach scheint Gmelin eine typische NS-Karriere gemacht zu haben. Als Jurastudent zunächst Mitglied bei den Normannen, wurde er ab 1931 aktiv in der Stahlhelm-Hochschulgruppe und kam über eine deutschnationale Liste mit dem „Hochschulring deutscher Art“ 1933 in den ASTA (Allgemeiner Studierendenausschuss). In der ersten Sitzung beschloss der ASTA, einen jüdischen Uni-Mitarbeiter zu entlassen, sagte Krawinkel.

In die SA wurde Gmelin 1933 übernommen, so Krawinkel weiter. Dort glänzte er durch wehrsportliche Erfolge und lernte auch seinen späteren Chef in Bratislava (Pressburg) Hanns Ludin kennen. 1938 als Kompanieführer im „Sudetendeutschen Freikorps“ eingesetzt, verübte Gmelins Kompanie während der Sudetenkrise eigenständig Überfälle auf tschechische Grenzstationen, bei denen auch tschechische Soldaten getötet wurden. Nach dem Einmarsch ins Sudetenland im Oktober 1938 beteiligte sich Gmelins Kompanie an illegalen „Landnahme“-Aktionen.

Karrieresprung nach Bratislava

Der nächste Karrieresprung brachte Gmelin dann nach Bratislava (Pressburg), ab 1941 Adjutant des Gesandten Ludin, ab 1942 Gesandtschaftsrat. Mit seinen „volkstumspolitschen Erfahrungen“ brachte Gmelin laut Krawinkel die Voraussetzungen für die Leitung des „Volkstumsreferats“ mit. Aufgabe: Unterstützung der deutschen Minderheit in der Slowakei. Da habe sich Gmelin an der Verfolgung Homosexueller und Wehrdienstverweigerer beteiligt und half mit, dass auch „Volksdeutsche“ bei der Arisierung nicht zu kurz kommen.

Die Federführung bei den Deportationen der Juden aus der Slowakei hatte zwar das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), aber die Gesandtschaft mit Ludin und Gmelin „hat zum Gelingen maßgeblich beigetragen“, so Krawinkel. Über 57 000 Juden seien deportiert worden, „ein Großteil wurde ermordet“. Nachdem die Deportationen ins Stocken gerieten, habe sich die Gesandtschaft „wiederholt bemüht“, sie wieder aufzunehmen. Als im Oktober 1944 mindestens 1600 Juden nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden, habe Gmelin das gerechtfertigt. Gmelins Aussagen zufolge sollten sie „im Reich“ beim Aufbau einer wichtigen Industrie eingesetzt werden, sagte er dem Sekretär des slowakischen Staatspräsidenten.

Dabei, so Krawinkel, sei zu diesem Zeitpunkt „die systematische Ermordung der Juden längst ein offenes Geheimnis“ gewesen. Ab Sommer 1942 sei durch die internationale Berichterstattung „allgemein bekannt“ gewesen, dass Juden in Polen ermordet werden, worüber auch slowakische Zeitungen berichteten, sagte Krawinkel. Gmelin sei als hoher Beamter des Auswärtigen Dienstes an einem zentralen Tatort gewesen, „er gehörte zu den informierten Kreisen“.

Auch für Conze ist Gmelins Rolle in der Slowakei klar: Er habe geholfen, den Weg für die Deportation der Juden zu bereiten, sagte er. Er habe an der Politik mitgewirkt, keine Bedenken geäußert, nicht gezögert – „kein Ansatz von Destruktion, auch in der gesamten Karriere seit 1933 nicht“. Er habe „keinen Sand ins Getriebe gestreut“, sondern „im Sinne des Regimes, der Ideologie gehandelt“. An den zentralen Verbrechen der Nationalsozialisten sei er beteiligt gewesen.

Die Entnazifizierung bezeichnete Conze als eine „Art Drehtür“ für die „postnationalsozialistische Laufbahn“. Mit den „Persilscheinen“ – auch durch den kurzzeitigen Tübinger OB Viktor Renner – konnte die eigene Biografie umprogrammiert werden, und mit dem „Recht auf politischen Irrtum“ seien nach dem Krieg die Verbrechen „massiv relativiert“ worden.

Zum Demokraten entwickelt

Renner, Carlo Schmid und Gmelin kannten sich. Renner und Schmid sahen in Gmelin einen „fähigen Juristen“, „links, rechts“ spiele da keine Rolle, so Conze. Das erkläre auch das Scheitern der Entnazifizierung. Zwar wurde in der Leserbriefdebatte im TAGBLATT zur OB-Wahl von 1954 die NS-Vergangenheit von Gmelin thematisiert, aber „dieses Wissen wurde zurückgedrängt“. Man wollte „nach vorne schauen“.

Dennoch attestierte der Historiker dem Ex-OB die „Fähigkeit zu demokratischer Konversion“. Gmelin sei von 1955 bis 1975 ehemaliger Nationalsozialist gewesen, der sich zum Demokraten entwickelt, sich aber auch in seiner Amstzeit für Kriegsverbrecher, deren Verwandte und Veteranenverbände eingesetzt habe.

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Erstellt:
15.07.2017, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 15.07.2017, 01:00 Uhr

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