Ganz Unten

Herbstzeitlose Betrachtungen, bevor es richtig kalt wird

Die Blätter treiben bunt über den Albtorplatz, und das war schon letztes Jahr so und die Jahre davor nicht anders. Wer jetzt kein Haus hat, wohnt zur Miete – oder wie Rilke bei reichen Gönnerinnen. Herbstzeitlose Gesellen wie ich hegen und pflegen alle Jahre zwischen Oktober und November ihren Weltschmerz, sobald die letzten Altweibersommersonnenstrahlen verblasst sind.

10.10.2016

Von Matthias Reichert

Keine Sorge, dieser Weltschmerz wird hier nicht ausgebreitet. Es gibt Menschen, die vermissen das Positive in der Zeitung. Hier ist etwas für sie: Vor kurzem habe ich an einem strahlenden Oktobersonnentag eine braunglänzende Kastanie aufgehoben und mir kurz überlegt, ob ich Streichhölzer als Beine dranstecken soll, wie wir das als Kinder gemacht haben. Dann dachte ich an die Herbstspaziergänge von früher, im raschelnden Laub auf der Ostalb, und beschloss, demnächst mal sonntags ins Lautertal zu fahren oder auf den Roßberg zu kraxeln.

Der Herbst hat zweifellos seine guten Seiten. Man sinniert in den Alleen ein bisschen dem Sommer hinterher und verdrängt das Nahen des Winters so gut es geht, später kocht man daheim eine heiße Suppe, die man genüsslich vor dem bullernden Ofen auslöffelt.

Nicht genug: Die melancholische Grundstimmung der Jahreszeit kurbelt den Umsatz in den Buchläden an, denn lesend wird die Melancholie zum reinen Vergnügen. Shoppen ist auch ein probates Mittel gegen das herbstliche Unbehagen an den kürzeren Tagen, das steigert im Einzelhandel die Vorfreude aufs Weihnachtsgeschäft. Und wer Spiel, Spaß und Spannung liebt, kommt in den Rathäusern auf seine Kosten: Die Kommunen steigen jetzt in die Haushaltsberatungen ein. Den Sparkommissaren wird warm ums Herz, nur eiskalte Rechner bewahren kühlen Kopf in den hitzigen Debatten. Die Ernte ist eingefahren, die Speicher sind voll – und der Krieg in Syrien in den Fernsehnachrichten ist weit weg.

Ja, ich gebe zu: Ich mag den Herbst, weil dann das Jahr nicht mehr richtig jung ist, so wie ich selbst, aber noch nicht so eingeschneit wie der Dezember, zugefroren wie der Januar und frostklirrend wie der Februar. Der Herbst ist die Fortsetzung des Spätsommers mit anderen Farben, ab 40 weiß man ihn zu schätzen.

Gut, die Herbststürme nerven ein bisschen. Aber wenn mir der Wind um die Nase pfeift, dann denke ich an frühere Schiffspassagen auf der Nordsee, knöpfe die Joppe zu und lichte die Anker. Hinaus ins Offene, und sei es nur ins Bäckerparadies der Oberen Wilhelmstraße oder auf einen allerletzten Espresso ins Straßencafé. Der Herbst ist mein Freund, und er wird jedes Jahr schöner.