Mit Engelszungen

Heute kostet die Welt höchstens ein Lächeln

Das Jahr nimmt kein Ende. 335 Tage noch. Und schon ist das Waschpulver alle. Ob es hilft, wenn ich beim Reutlinger Elektrohändler eine neue Waschmaschine kaufe? Kaffee ist auch fast aus, vielleicht nehme ich noch einen neuen Wasserkocher mit.

31.01.2017

Von Matthias Reichert

Dieses Jahr soll dem Konsum gehören, habe ich beschlossen. Hiermit gebe ich das Warten auf den Sechser im Lotto auf und beginne, die Kohle gleich zu verpulvern. Es ist schließlich nur eine Frage der Zeit, bis ich Millionär bin. Dieses Schicksal hat mir vor vielen Jahren eine weise Frau vorausgesagt, und ich glaube an Prophezeiungen.

So viele Dinge, die ich unbedingt besitzen möchte. Ein neues Notebook, ein Smartphone und Kekse als Hamsterkäufe, falls der VfB doch nicht aufsteigt und der nationale Notstand eintritt. Nicht zu vergessen: die 33-bändige Goethe-Ausgabe zum Schnäppchenpreis von 250 Euro. Ein Auto, eine Jacht und eine Villa, damit ich was zum Angeben habe – gleich heute gehe ich zur Bank und nehme einen Kredit auf.

Nur fürchte ich, dass die Aussicht auf einen Sechser im Lotto meinem Kreditberater als Sicherheit nicht ausreicht. Vor allem, weil ich kein Lotto spiele. Und die weise Frau hat leider, weise wie sie ist, vergessen, mir zu sagen, wann ich Millionär werde. Und sie hat mir ihr Orakel nicht schriftlich gegeben, sonst könnte ich es jetzt vorzeigen.

Wenn ich durch die Reutlinger Fußgängerzone laufe und die Schaufenster bestaune, möchte ich alle Tage Krösus sein. Dann würden mich die Fachverkäufer/innen nicht scheel anschauen, wenn ich mit leuchtenden Augen vor den Auslagen stehe und mir wieder keine neue Jacke leiste.

Das wird ab heute anders. Heute haue ich den letzten Hunderter, den ich unterm Kopfkissen gehortet habe, auf den Kopf, dass es kracht. Als erstes leiste ich mir einen Espresso. Ach was, ein Pfund Röstkaffee. Ach was, einen Kaffee-Vollautomaten. Nun gut, dafür reichen hundert Euro nicht ganz. Aber wenn ich überzeugend auftrete, kriege ich locker Kredit.

Alles eine Frage des Auftretens. Wer müde schlurft, als könne er sich nicht einmal ein Glas Leitungswasser leisten, wird vom Kellner in der Kneipe nicht mit Handschlag begrüßt, sondern sofort an den Katzentisch gesetzt, wo er im Dämmerlicht sein Schälchen Graupensuppe löffeln muss.

Ich habe das richtige Auftreten gestern Abend vor dem Spiegel geübt und vor dem Einschlafen Thomas Manns Hochstapler Felix Krull gelesen. Einzelhandel, ich komme! Was kostet die Welt? Heute nicht mehr als ein Lächeln.