Horb · Interview

„Hygienekonzepte sind nur so gut, wie sie gelebt werden“

Gesundheitsamtsleiter Axel Schneider kämpft seit dem Frühjahr gegen Covid-19 im Kreis Freudenstadt. Der SÜDWEST PRESSE gibt er Einblicke in den Umgang seines Teams mit der zweiten Welle und wie er weitere Todesfälle in Pflegeheimen verhindern will.

28.11.2020

Von Benjamin Breitmaier

Axel Schneider ist Leiter des Gesundheitsamts Freudenstadt.Privatbild

Axel Schneider ist Leiter des Gesundheitsamts Freudenstadt.Privatbild

Er übt derzeit eine der wichtigsten Aufgaben im gesamten Kreis Freudenstadt aus, der Mann, bei dem die Fäden im Kampf gegen Covid-19 zusammenlaufen. Der Mediziner Axel Schneider leitet seit Februar dieses Jahres das Freudenstädter Gesundheitsamt. Mit der SÜDWEST PRESSE spricht er über die Arbeit an der Pandemie-Front, bei der ab der kommenden Woche sogar Soldaten der Bundeswehr im Kreis Freudenstadt zum Einsatz kommen.

SÜDWEST PRESSE: Herr Schneider, bekommen Sie aktuell noch genügend Schlaf?

Axel Schneider: Meistens ja.

Was bereitet Ihnen derzeit die größten Sorgen?

Dass die 7-Tages-Inzidenzrate seit mehreren Wochen im Landkreis Freudenstadt höher als 50 pro 100000 Einwohner ist.

Was waren die Lehren, die Sie aus den Erfahrungen mit der ersten Welle ziehen konnten?

Dass Personen mit Symptomen von Covid-19 sehr schnell isoliert und diagnostiziert werden müssen, damit es keine kreisenden Infektionen in der Bevölkerung, den Einrichtungen, Familien oder am Arbeitsplatz gibt. Dass die Kontaktpersonennachverfolgung zur Eindämmung der Infektionsketten schnell und konsequent durchgeführt werden muss. Dass die Bereitstellung und Bevorratung von persönlicher Schutzausrüstung im Rahmen des Ausbruchgeschehens für die kritische Infrastruktur, beispielsweise den Mitarbeitern im Gesundheitswesen, sehr wichtig ist, dass die Anwendung von Schutzmaßnahmen zur Vermeidung von virenhaltigen Aerosolen, wie das Tragen eines Mundnasenschutzes oder einer FFP-2-Maske, das Infektionsrisiko deutlich reduziert. Dass Hygienekonzepte im Vorfeld entwickelt werden müssen – und diese nur so gut sind, wie sie gelebt werden, und die Aufklärung über die Krankheit und über erforderliche Maßnahmen einen wichtigen Bestandteil im Rahmen der Pandemiebekämpfung darstellen.

Was wird jetzt besser gemacht als im April?

Bei Verdachtsfällen kann zur Zeit aufgrund des Ausbaus der Testkapazitäten zielgerichtet und großzügig die Indikation zur Durchführung eines Testes auf Sars-CoV-2 gestellt werden. Die Durchführung der Diagnostik ist seit Einführung der Schnelltestverfahren deutlich erleichtert worden. Hierdurch ist auch in Einrichtungen mit vulnerablen Patienten oder Bewohnern das rechtzeitige Erkennen einer Virusinfektion möglich. So kann die Ausbreitung des Erregers durch Anwendung entsprechender Pflege- und Hygienemaßnahmen, wie beispielsweise die konsequente Einhaltung eines Hygieneplans, verhindert werden. Ferner hat die Aufklärung bezüglich der Pathogenität und Virulenz des Erregers zu einer Verhaltensänderung im sozialen Zusammenleben und in der Infrastruktur von Gesundheitseinrichtungen geführt. Durch selbstkritischen Umgang mit der eigenen Gesundheit kann beim Vorliegen von Krankheitssymptomen der Schutz von Mitmenschen, sowohl in der Familie als auch am Arbeitsplatz, deutlich verbessert werden. Des weiteren können durch Einhalten von Hygieneregeln nach dem AHA-Prinzip Infektionsketten mit kreisenden Infektionen aufgebrochen und zum Stillstand gebracht werden.

Eine Frau aus Waldachtal hat uns berichtet, dass sie zehn Tage auf das Testergebnis gewartet hat, obwohl sie unter massiven Lungenschmerzen litt. Was würden Sie solchen Personen raten?

Ich rate in so einem Fall zur unmittelbaren telefonischen Kontaktaufnahme mit dem Hausarzt, beziehungsweise am Wochenende mit dem Ärztlichen Bereitschaftsdienst, zur Festlegung weiterer diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen. In einem derartigen Fall kann die Durchführung eines Schnelltestes zielführend sein.

Und was ist mit den Kontakten, die in diesen zehn Tagen ungewarnt blieben und womöglich weitere Kontakte gegebenenfalls angesteckt haben?

Sofern der Erreger Sars-CoV-2 nachgewiesen wird, erfolgt nach Paragraf 7 Infektionsschutzgesetz eine Meldung an das zuständige Gesundheitsamt. In dem ersten diagnostischen Gespräch mit dem Patienten, oder, falls nicht möglich, mit dem Betreuer, werden die Kontaktpersonen abgefragt und nach Erfüllung von Kriterien des Robert Koch-Instituts (zur Zeit des Kontaktes, Einhalten von Mindestabständen und anderes) in Kategorien eingeteilt. Wenn diese die Kriterien nach K I erfüllen, wird von den Ordnungsämtern Quarantäne angeordnet, beziehungsweise bei Krankheitssymptomen vom Hausarzt oder vom Gesundheitsamt die Durchführung eines Testes empfohlen.

Wie steht es im Kreis Freudenstadt aktuell mit der Kontaktnachverfolgung?

Die Kontaktnachverfolgung wird vom Gesundheitsamt Freudenstadt konsequent durchgeführt.

Zu welchem Prozentsatz können Infektionsketten noch nachvollzogen werden?

Bei etwa 90 Prozent der Fälle.

Wie viele Helfer sind im Einsatz?

Zur Zeit sind das 29 Vollzeitäquivalente.

Aus Nachbarkreisen ist bekannt, dass zur Kontaktnachverfolgung auch Bundeswehrsoldaten eingesetzt werden. Ist das in Freudenstadt auch der Fall? Wenn ja, wie klappt die Zusammenarbeit? Wenn nein, wurde ein Einsatz von Soldaten in Betracht gezogen?

Das Landratsamt Freudenstadt hat den Einsatz von Soldaten zur Kontaktpersonennachverfolgung beantragt. Am Dienstag, 1. Dezember, erwarten wir die erste Abordnung von fünf Soldaten.

Wie bewerten Sie die seit einer Woche stetig zurückgehenden Inzidenzzahlen im Landkreis – als Zeichen, dass man auf dem richtigen Weg ist, oder als nicht-signifikanten Zwischeneffekt der Statistik?

Die zurückgehenden Inzidenzzahlen im Landkreis Freudenstadt sind eine erfreuliche Trendwende. Dies konnte nur durch das konsequente Anwenden von epidemiologisch erforderlichen Maßnahmen erreicht werden. Dazu gehört die konsequente Vorgehensweise des Gesundheitsamts Freudenstadt unter Anwendung von Containment-Maßnahmen. Ferner kann dies nur erreicht werden durch die Mithilfe der niedergelassenen ärztlichen Kollegen und der Schwerpunktpraxen im Rahmen der Diagnostik des gefährlichen Erregers. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Mithilfe und Mitarbeit der Bevölkerung, durch Einhaltung von Hygieneregeln sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich.

Die meisten Toten gab es im Frühjahr in Pflegeheimen des Kreises. Was hat sich diesbezüglich an der Strategie geändert, damit es nicht mehr zu solchen Situationen kommt?

Die Strategie zur Vermeidung von Todesfällen in Einrichtungen besteht in der Vermeidung von Infektionseinträgen durch Bewohner, durch Pflegekräfte und Besucher. Durch die Möglichkeit zur Untersuchung der Bewohner, der Besucher und Mitarbeiter mittels Screeningverfahren, wie zum Beispiel mit dem Schnelltestverfahren, können vorhandene entzündliche Reaktionen bei Bewohnern, ohne Zeitverzug, auf Sars-CoV-2 differenzialdiagnostisch untersucht werden.

Hierdurch ist eine schnelle therapeutische Hilfe möglich. Im Falle eines positiven Tests können die erforderlichen Hygienemaßnahmen ohne Zeitverzug umgesetzt werden, sodass gegebenenfalls die Infektionskette sofort unterbunden werden kann. Auch schwerwiegende Krankheitsbilder können hierdurch schneller einer intensivmedizinischen Therapie zugeführt werden, wodurch sich die Heilungschancen deutlich verbessern.

Verantwortliche Pflegedienstleiter eines
Seniorenheimes sagen, das Gesundheitsamt habe sie im Frühjahr darauf hingewiesen,
es liege in ihrer persönlichen Verantwortung, wenn sich Heimbewohner anstecken würden, und sie seien gegebenenfalls haftbar. Ist das richtig – und wird das auch jetzt so gehandhabt?

Ich glaube, da muss eine Richtigstellung erfolgen: Falls Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung, die Zeichen einer Covid-19-Erkrankung haben, ohne entsprechende Schutzmaßnahmen die Versorgung von Patienten vornehmen, kann dies juristische Folgen haben.

Im Frühjahr mussten zeitweise Ehrenamtliche in den Heimen einspringen? Droht uns erneut eine derartige Situation?

Ich glaube, durch Anwendung von Hygienemaßnahmen in Kombination mit einem konsequenten Personalmanagement lassen sich derartige Engpässe weitgehend vermeiden. Ferner hat sich die Vereinigung der Sozialhilfeträger auf ein Konzept zur gegenseitigen Aushilfe mit Personal, für Notfälle, verständigt. Dies wurde bei der ersten Infektionswelle schon praktiziert.

Sehen Sie sich in einer gewissen Mitverantwortung für Senioren, die in Heimen untergebracht alleine gestorben sind, ohne sich von ihren Angehörigen verabschieden zu können?

Als Leiter des Gesundheitsamtes bin ich im Rahmen einer Pandemie für die Aufrechterhaltung der Gesundheit im Landkreis mitverantwortlich. Dazu gehört, die Weiterverbreitung von gefährlichen Infektionserkrankungen, beziehungsweise deren Erregern, zu unterbinden. Hierzu mussten in der Hochphase der Epidemie in Absprache mit dem Betreiber eines Heimes oder einer Einrichtung, die von stark gefährdenden Menschen bewohnt waren, Maßnahmen zur Unterbindung der Ausbreitung einer gefährlichen Seuche, bei fortschreitender Ausbreitung des Erregers in der Einrichtung, durchgeführt werden. Als Arzt und Christ bedauere ich dies zutiefst, wenn aufgrund der epidemiologisch erforderlichen Maßnahmen Angehörige sich nicht adäquat von einem sterbenden Familienmitglied verabschieden konnten.

Sind Ihnen derartige Fälle bekannt?

Ja.

Gibt es eine gewisse Schwelle, beispielsweise, wenn nur noch ein bestimmter Prozentsatz an Infektionsketten nachvollzogen werden kann, dass es zu einem Strategiewechsel Ihres Amts kommt? Wenn ja, wie sieht dieser aus?

Eine nominale Schwelle gibt es nicht. Der Strategiewechsel besteht darin, dass wir einen stark vermehrten Bedarf an Mitarbeitern in der Personalabteilung des Landratsamtes anmelden und aus anderen Bereichen des Landratsamtes personelle Unterstützung bekommen. Zur Zeit werden wir durch Mitarbeiter aus dem Veterinäramt, dem Amt für Vermessung und Flurneuordnung und dem Forstamt des Landratsamtes unterstützt. Ab 1. Dezember durch die Bundeswehr.

Haben Sie sich schon Gedanken um Weihnachten gemacht? Wie wird das Fest bei Ihnen wohl aussehen?

Nach der geplanten Änderung der Corona-Verordnung beziehungsweise der Strategie der Ministerpräsidenten und Kanzlerin Merkel wird eine kleine Feier im Familienkreis wohl möglich sein. An Heiligabend würde ich mich freuen, wenn ich zu Hause sein könnte, weil meine Tochter am 24. Dezember Geburtstag hat. Durch die Pandemie mit anhaltend hoher Inzidenzrate im Landkreis wird Weihnachten 2020 und Neujahr 2021 für etliche meiner Mitarbeiter und mich durch den Dienstplan im Gesundheitsamt geprägt werden. Ich bin überzeugt, dass durch Greifen von epidemiologischen Maßnahmen und dem Vorhandensein eines verträglichen und wirksamen Impfstoffes gegen Covid-19 das Jahr 2021 in ruhigeren Bahnen verläuft.

„Hygienekonzepte sind nur so gut, wie sie gelebt werden“

Die Person

Axel Schneider absolvierte sein Medizinstudium in Würzburg und war dort an der Uniklinik tätig. Weitere Stationen seiner Karriere sind die HNO-Klinik im Elbland-Klinikum Meißen und das Gesundheitsamt in Schwäbisch Hall. Seine Ausbildung zum Amtsarzt machte er von 2012 bis 2015 beim Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz. Seit dem 1. Februar 2020 ist er als Leiter des Gesundheitsamts in Freudenstadt tätig.

Zum Artikel

Erstellt:
28.11.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 34sec
zuletzt aktualisiert: 28.11.2020, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!