Tübingen

Cinelatino: Iberoamerikanisches Flair statt Corona-Falle

Das Festival des spanischsprachigen und lateinamerikanischen Films schafft mit seiner 28. Ausgabe doch noch den diesjährigen Kinostart in Tübingen. Kolumbien ist Schwerpunktland zwischen Politik, Gewalt und Überlebensstrategien.

01.06.2021

Von Dorothee Hermann

Aus Brasilien kommt der Spielfilm „Café com Canela“ über Frauen, die mit Alltagsritualen gegen Tristesse und Traumata angehen. Bild: Cinelatino

Aus Brasilien kommt der Spielfilm „Café com Canela“ über Frauen, die mit Alltagsritualen gegen Tristesse und Traumata angehen. Bild: Cinelatino

Es war eine Zitterpartie bis zuletzt. Doch eine Sondergenehmigung des Tübinger Ordnungsamts rettete den Kinostart des Cinelatino: Es kann wie geplant am morgigen Mittwoch im Tübinger Kino Museum loslegen. Bis zum 9. Juni sind 47 Produktionen aus Spanien und zehn lateinamerikanischen Ländern zu sehen: 27 Langfilme und 20 Kurzfilme. „Für uns ist Priorität, dass das Festival im Kino stattfindet“, sagte Cinelatino-Gründer Paulo de Carvalho am Montag. Zur Eröffnung läuft „A media voz“ (Mit halblauter Stimme), ein spanischer Dokumentarfilm, „der auch irgendwie kubanisch ist“, sagte Pola Hahn vom Festivalteam. Gedreht haben ihn zwei Kubanerinnen, die im Exil in der Schweiz beziehungsweise in Spanien leben (Besprechung folgt). „Sie haben einen Film über ihre Freundschaft gemacht.“

Brandaktuell ist der Länderschwerpunkt Kolumbien, wo es seit Wochen massive Proteste gegen eine geplante Steuerreform gibt: Die durch die Pandemie und eine Wirtschaftskrise gebeutelten Armen und auch die Mittelschicht würden durch sie noch stärker unter Druck geraten.

Um möglichst vielfältige Sichtweisen auf das Land zu ermöglichen, das seit Jahrzehnten von Gewalt geprägt ist, sind auch ältere Filme im Programm: beispielsweise die Low-Budget-Produktion „Chocó“ von Jhonny Hendrix Hinestroza, mit dem es ein Onlinegespräch geben wird. „Chocó“ ist der Name der Protagonistin und jener der abgehängten Region, in der sie mit ihren beiden Kindern und ihrem nichtsnutzigen Freund lebt. „Es geht um Rassismus und um häusliche Gewalt“, so Hahn.

Hinestroza ist der erste afroamerikanische Regisseur und Produzent Kolumbiens. Sein Spielfilm „Candelaria“ über ein altes Paar auf Kuba, das per Videokamera die Welt neu entdeckt, gehört eher ins Wohlfühlgenre.

Die Medienwissenschaftlerin Anne Burkhardt vom Tübinger Institut für Ethik in den Wissenschaften stellt ihr Buch „Gewalt und Kolumbianisches Kino“ vor (Montag, 7. Juni, 17 Uhr, online). Sie hat untersucht, wie der innerkolumbianische Konflikt zwischen Paramilitärs, Staat und Guerilla im Film dargestellt wird.

Im Wettbewerb um den Publikumspreis treten neun Filme aus Argentinien, Brasilien, Panama und Spanien an. „Meu nome é Bagdá“ (Mein Name ist Bagdá) begleitet eine junge Skaterin durch die Vororte von São Paulo. Sie ist das einzige Mädchen in der Skatergruppe, aber dennoch Sexismus und Rassismus (auch durch die Polizei) ausgesetzt. Regisseurin Caru Alves de Souza wird den Film selbst in Tübingen vorstellen. Zumindest online könnte er auch Jugendliche ansprechen, für die es in diesem Jahr coronabedingt keine Schulvorstellungen gibt.

Zum Abschluss führt „La niñas“ (Die Mädchen) ins Spanien der 1990er Jahre. Celia besucht eine strenge Klosterschule. Mit einer lockeren, neuen Mitschülerin beginnt sie, sich auszuprobieren, entdeckt Jungs und Partys und merkt, dass vielleicht nicht alles stimmt, was die Erwachsenen sagen.

Ebenfalls auf jene Zeit bezieht sich die Doku „El año del descubrimiento“ (Das Jahr der Entdeckung), die sich hauptsächlich auf das Geschehen in einer Kneipe konzentriert. Man hört und sieht die Barbesucher, die die spanische Gesellschaft sehr unterschiedlich wahrnehmen. Es geht um Werksschließungen und Umstrukturierung im Südosten Spaniens.

Der Animationsfilm „Josep“ des französischen Künstlers Aurel läuft in Zusammenarbeit mit dem Institut Culturel Franco-Allemand Tübingen. „Es ist ein Animationsfilm für Erwachsene“, sagte Hahn. Er schildert, wie schlecht es vor Franco geflohenen spanischen Republikanern 1939 in einem Lager in Frankreich erging.

In Kooperation mit dem Deutsch-Amerikanischen Institut Tübingen wird „Sin señas particulares“ (Was geschah mit Bus 670?) gezeigt. Darin macht sich eine Mutter auf die Suche nach ihrem Sohn Jésus, der mit einem Freund den Bus an die Grenze im Norden Mexikos genommen hat. Seither hat sie nichts mehr von ihm gehört.

Im Festival-Fokus „Afroamerikaner in Lateinamerika“ ist beispielsweise der Dokumentarfilm „Negra“ aus Mexiko zu sehen. Regisseurin Medhin Tewolde Serrano ist zu Gast beim Online-Podiumsgespräch über „Afro-Lateinamerikanisches Kino: antikoloniale Blicke“ (Dienstag, 8. Juni, 18 Uhr).

Bereits am 3. Juni startet die Online-Ausgabe des Cinelatino (bis 16. Juni): begrenzt auf das Bundesgebiet und auf 150 Tickets pro Film. Man kann auch Pakete von drei oder vier Filmen buchen. Als Bonusmaterial gibt es Interviews mit Filmemachern oder Kurzeinführungen.

Das Festival hat ein Budget von knapp 100000 Euro. Davon übernimmt die Stadt Tübingen 10000 Euro sowie 1000 Euro Projektzuschuss. Die Stadt Stuttgart steuert 15000 Euro bei. Beim Regierungspräsidium Tübingen sind 7500
Euro beantragt. Seit die Stiftung Entwicklungszusammenarbeit in Stuttgart und das Landesprogramm „Kunst trotz Abstand“ jeweils 20000 Euro zugesagt haben, hat sich die Finanzlage des Cinelatino aufgehellt.

Besucher müssen einen negativen Coronatest oder einen Impfnachweis vorlegen oder nachweisen, dass sie Covid-19 überstanden haben. Im Kino gelten Maskenpflicht und Abstandsregeln. Der Cinelatino-Ableger im Reutlinger Programmkino Kamino kann erst am 1. Juli starten.

Der Open Festival Space öffnet bereits heute Abend

Im Biergarten „Freistil“ am Neckar (vormals „Casino“) lädt das Cinelatino auch in diesem Jahr wieder zum Open Festival Space. Und zwar schon heute Abend, 1. Juni, einen Tag vor Festivalbeginn, bis zum Abschluss am Mittwoch, 9. Juni. Es gibt mexikanische, kubanische und afrokolumbianische Kurzfilmprogramme, mexikanisches Essen und eine Party mit Tübinger DJs und Mezcal-Bar. Außer bei der Doku „La balada del brujo“ (Die Ballade des Zauberers) am Montagabend, 7. Juni, ist der Eintritt frei. Filmbeginn ist um 17 Uhr. Dann ist es unter den Arkaden schon schummrig genug für Kinobilder. „Wir versuchen, den Charme wie immer beizubehalten“, sagte Berenice Höntzsch, die den Open Festival Space seit

Jahren organisiert.

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Erstellt:
01.06.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 43sec
zuletzt aktualisiert: 01.06.2021, 01:00 Uhr

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