Zeitzeugen

Im Schatten des Krieges

Die Erinnerung an die Kindheit im Krieg prägt das ganze Leben. Die Gerontologin Ulla Reyle sprach in Gomaringen über den Umgang mit Betroffenen.

18.10.2016

Von Susanne Mutschler

Wie ihre Mutter sie allnächtlich beim Sirenengeheul der Fliegerangriffe weckte und anzog, hat sich einer während des Krieges geborenen Gomaringerin tief ins Gedächtnis eingegraben. Die heute 74-Jährige hat Glück, dass sie nicht zu den geschätzten 30 Prozent der Kinder gehört, die durch solche Erlebnisse traumatisiert wurden und immer noch kaum darüber sprechen können. Dass sie nicht von unbewältigten Ängsten angefallen werde, hänge mit ihrer stabilen Mutterbeziehung und der relativen Sicherheit im Dorf zusammen, erläuterte die Tübinger Gerontologin Ulla Reyle am Donnerstag im Gomaringer Gemeindehaus. Am diesjährigen Seelsorgeforum der evangelischen Kirchengemeinde nahm neben Mitarbeitern in der Seniorenarbeit auch eine Reihe von Kriegszeitzeugen teil.

„Die Gegenwart wird immer wahrgenommen über die Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat“, sagte Reyle. Das Denken und Empfinden Deutscher, die zwischen 1934 und 1944 zur Welt kamen, sei geprägt von den dramatischen Eindrücken der Flucht, Vertreibung und Gewalt, die sie bereits als kleine Kinder erlebten. Nicht allen ist es gelungen, diese frühen seelischen Verletzungen zu verarbeiten. „In deutschen Altersheimen tobt noch immer der Weltkrieg“, formulierte Reyle.

Kriegskinder erlebten ihre Mütter als starke Frauen und ihre Väter als abwesend. Die Angriffe und der ständige Hunger machten ihnen klar, dass Erwachsene sie nicht beschützen konnten. Dazu kam das lieblose Erziehungsideal der NS-Zeit, dessen Ziel jederzeit verfügbare und gehorsame Anhänger waren. „Jedes Kind ist eine Schlacht, die geschlagen werden will“, zitierte Reyle aus dem Ratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer. Dieser Ratgeber sei damals allen Haushalt gebräuchlich und noch weit in die Nachkriegszeit hinein befolgt gewesen. Als unentbehrliche Familienhelfer mussten diese Kinder früh Verantwortung tragen und ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle unterdrücken.

Tore zur Vergangenheit

Rückblickend deuten Kriegskinder ihre leidvollen Kindheitserfahrungen zu Abenteuern oder besonderen Herausforderungen um. „Verdrängung als Überlebensstrategie“, sagte Reyle dazu. “.

Erst im fortgeschrittenen Alter „öffnen sich die Tore zur Vergangenheit wieder“, sagte die Gerontologin. Längst vergessen Geglaubtes wird wieder zugänglich. Bei älter gewordenen Kriegskindern beobachtet sie, wie sich das Erlebte auch im Körper manifestiert hat. Unvermitteltes Erschrecken etwa sei ein Zeichen für ein somatisiertes Trauma, verstärkte Kälteempfindlichkeit hänge mit den erlebten Kriegswintern zusammen und der Umzug ins Seniorenstift werde bisweilen wie eine erneute Heimatvertreibung empfunden.

„Gutes Zuhören ist die größte Liebe, die man entgegenbringen kann“, äußerte Reyle. Wichtig sei, als „hörender Gefährte“ die richtigen Fragen zu stellen. Hilfreiche Impulse könnten etwa mitgebrachte Erzählungen und Bilder von Zeitzeugen sein. Erst „wenn man sich an etwas erinnert, kann man es auch bewältigen“. Viel komplizierter findet Reyle den Zugang zu demenzkrank gewordenen Senioren, die von den unverarbeiteten Erinnerungen an ihre Kriegskindheit hilflos überflutet werden: .„Die Demenz stellt uns frei davon, funktionieren zu müssen.“ Reyle wünscht sich mehr persönliche Begleitung in der Seniorenbetreuung. „Wir müssen die Seelen pflegen, nicht nur die Körper.“