Neun Tipps für Ihre Filmtage-Planung

In Frankreichs Dschungel und Belgiens Wildem Westen

Rund 120 lange und kurze Filme stehen auf dem Spielplan der 33. Französischen Filmtage. Wir haben neun für sie ausgesucht, die viel versprechen.

02.11.2016

Von che

 

 

Birnenfrau ohne Lavendel

Victoria: Mit knapp 40 Jahren noch zum Filmstar aufsteigen – dieses Kunststück ist der Belgierin Virginie Efira geglückt. Seit ihrem Auftritt in dem Landlustspiel „Birnenkuchen mit Lavendel“ kennt man ihr Gesicht auch in Deutschland. In ihrem neuen, zwischen romantischer Komödie und Alltagsdrama changierenden Film spielt sie eine Frau am Rand des Nervenzusammenbruchs: geschieden, alleinerziehend, von Existenznöten geplagt und in ihrem Beruf als Strafverteidigerin emotional überengagiert. Aber vielleicht kann ihr ja ein Wahrsager weiterhelfen. „Es sind nur kleine Veränderungen in Efiras Auftreten, ihrem Blick und ihrer Haltung, die große Wirkung auf der Kinoleinwand zeigen“ (critic.de).

Kinder ziehen in den Krieg

Wrong Elements: Mit dem Nazi-Roman „Die Wohlgesinnten“ hat Jonathan Littell vor zehn Jahren großes Aufsehen erregt. Jetzt hat der französische Schriftsteller und Journalist seinen ersten Dokumentarfilm vorgelegt, in dem es wieder um Macht und Machtmissbrauch geht. Im Mittelpunkt stehen ehemalige Kindersoldaten der ugandischen Lord’s Resistance Army. Deren Führer Joseph Kony ließ mehr als 60000 Kinder in den Busch verschleppen, wo sie die Wahl hatten, in den Krieg zu ziehen oder erschossen zu werden. Nur die Hälfte kam lebend zurück. „Littell ist ein gewaltiger Film gelungen, dessen Geschichten gefangen nehmen und die auch Tage später noch nachdenklich machen“ (Kino-Zeit).

Nach Island der Liebe wegen

L‘Effet aquatique: Vor drei Jahren haben die Französischen Filmtage der Regisseurin Solveig Anspach eine Werkschau gewidmet; im Vorjahr ist die in Frankreich praktizierende Isländerin überraschend gestorben. Hinterlassen hat sie laut „Le Monde“ einen „großartigen, lebhaften und heiteren“ Film, der im Frühjahr in Cannes mit dem Preis des Autorenverbands ausgezeichnet wurde. Die romantische Komödie mit skurrilem Einschlag handelt von einem verträumten Kranfahrer, der alles daransetzt, das Herz einer Bademeisterin zu erobern. Dafür nimmt er sogar Schwimmstunden bei der Angebeteten und folgt ihr nach Island, wo sie an einem Bademeister-Kongress teilnimmt. Die Liebe kennt eben keine Grenzen.

Abenteuer im Urwald

La Loi de la jungle: Frankreich ist nicht nur Paris und Aix-en-Provence, sondern auch das Urwald-Departement Guyana in Südamerika. Dort soll der Ministeriums-Praktikant Marc (Vincent Macaigne) den Bau einer Indoor-Skipiste überwachen, mit der die Regierung den Tourismus ankurbeln weil. Weil er damit heillos überfordert ist, bekommt er ein Pin-Up-Girl namens Tarzan als Mitarbeiterin zur Seite gestellt. Mit mäßigem Erfolg, denn prompt verlaufen sich die beiden im Dschungel, wo ihnen ein abenteuerlicher Trip zurück in die Zivilisation bevorsteht. „Eine der besten Komödien der letzten Jahre: gut durchmischt, einfallsreich und letztendlich politisch“ (Transfuge).

Cowboy trifft Streuner

Les premiers, les derniers: In den Filmen von Bouli Lanners („Ultranova“) erinnert Belgien immer ein bisschen an den Wilden Westen. So auch hier. Lanners selbst spielt den Cowboy beziehungsweise Kopfgeldjäger, der in einem kargen, weithin menschenleeren Landstrich voller Industrieruinen ein geklautes Handy mit brisanten Videodateien aufspüren soll. Das befindet sich in den Händen eines aus der Psychiatrie entflohenen Pärchens, das fest an die bevorstehende Apokalypse glaubt. Und dann gibt es noch einen gewissen Jesus, der die beiden Streuner immer wieder aus höchster Gefahr rettet. „Eine schräge Mischung aus Roadmovie, Ästhetik des Schmutzigen und surrealistischer belgischer Poesie – ein wahrer Genuss“ (Le Dauphiné Libéré).

Aus Feinden werden Lover

Quand on a 17 ans: André Téchiné („Wilde Herzen“) ist einer der großen Altmeister des französischen Kinos. Schon vor rund 20 Jahren haben ihm die Französischen Filmtage eine umfassende Retrospektive gewidmet. Mit mittlerweile 73 Jahren gilt sein Interesse immer noch der Jugend. Sein neuer Film ist sowohl eine Coming-of-Age- als auch eine Coming-Out-Geschichte. Am Schauplatz eines Bergdorfs in den Pyrenäen müssen zwei Schüler, die sich von Herzen hassen, umständehalber plötzlich unter einem Dach zusammenwohnen. Sehr allmählich entspinnt sich eine Freundschaft, aus der mehr wird. „Ein beglückender Film über die Zumutung des Erwachsenwerdens“ (Tagesspiegel).

Dieser Loser überwältigt

Baden Baden: Mit dem Kurort hat der Film nichts zu tun zu tun. Dafür ist die Protagonistin über weite Strecken damit beschäftigt, ein Bad zu renovieren. Zuvor hat Ana (Salomé Richard) ihren Job als Fahrerin einer Filmcrew hingeschmissen und ist mit dem dicken Schlitten nach Straßburg gedüst, wo sie ihrer kranken Oma zur Hand geht. Dort trifft sie auch einen alten Freund, der sie einst betrogen hat, aber immer noch sexuell anziehend ist. Das wär’s auch schon an Handlung, aber wie man von Truffaut weiß, braucht es gar nicht mehr für einen guten Film. „Als perfektes Abbild des emotionalen und sozialen Losers hat Ana alles, um zu nerven. Aber nein: sie fasziniert, amüsiert und überwältigt“ (VSD).

Empathie statt Hysterie

Le Ciel attendra: Was treibt westliche Teenager dazu, sich dem Islamischen Staat anzuschließen? Dieser Frage geht der Spielfilm von Marie-Castille Mention-Schaar („Die Schüler der Madame Anne“) am Beispiel zweier 16-jähriger Französinnen nach. Die eine ist eine brave Schülerin, doch als sie im Internet einen Jungen kennenlernt, der sie mit Verschwörungstheorien eindeckt, beginnt sich ihr Weltbild radikal zu wandeln. Die andere ist davon überzeugt, sie müsse ihre liberal muslimischen Eltern vor der Hölle bewahren. „Glaubwürdig gespielt und empathisch inszeniert, will der Film Verständnis vermitteln – in einer Zeit, in der Frankreich und der Rest Europas der Hysterie anheimfällt“ (Kino-Zeit).

Wenn das Schlachtvieh weint

Gorge Coeur Ventre: Das halb fiktive, halb dokumentarische Regie-Debüt von Festival-Gast Maud Alpi führt an einen Ort, der im Kino selten zu sehen ist, obwohl er aus dem Dasein der fleischessenden Spezies Mensch kaum wegzudenken ist: einen Schlachthof. Die Tiere kommen nachts. Sie spüren es. Sie setzen sich zur Wehr. Noch vor dem Morgengrauen führt ein junger Mann sie in den Tod. Eigentlicher Protagonist des Films ist aber dessen Hund, der eines Tages diese schreckliche Welt entdeckt. Aus seiner Perspektive verwandeln sich die Schlachtopfer in Wesen, die zu Verständnis, Freude, Leid und sogar Tränen in der Lage sind.