Tennis-Karriere

In den besten Jahren zur Nummer eins

Mit 28 Jahren gehört die Weltranglistenerste Angelique Kerber zum älteren Semester in ihrer Sportart – und steht womöglich erst am Anfang.

27.10.2016

Von CLAUS-PETER ANDORKA

Profitiert von ihrer Erfahrung: Die beste Tennisspielerin der Welt, Angelique Kerber. Foto: imago, Paul Zimmer

Profitiert von ihrer Erfahrung: Die beste Tennisspielerin der Welt, Angelique Kerber. Foto: imago, Paul Zimmer

Singapur. Einen Rekord war Angelique Kerber schon vor dem ersten Aufschlag beim WTA-Finale los: Da die Russin Svetlana Kuznetsova mit ihrem Last-Minute-Sieg in Moskau noch das Ticket für Singapur löste, ist die Deutsche beim Turnier der acht erfolgreichsten Spielerinnen des Jahres nicht mehr die älteste Teilnehmerin. In der Statistik der WTA, in der man so ziemlich alles über die Spielerinnen erfährt, war sie beim Turnierstart noch als solche geführt worden – mit 28 Jahren und 282 Tagen. Jetzt liegt Svetlana Kuznetsova (31 Jahre und 123 Tage) vorne.

Bei den Tennisstars verbietet die Höflichkeit zwar nicht die Frage nach dem Kontostand. Doch wenn es ums Alter geht, werden die Damen oft einsilbig. Nicht so Angelique Kerber. „Ich kann meine Erfolge viel intensiver genießen, als wenn ich sie schon als junge Spielerin erreicht hätte“, ist sie überzeugt, wobei der lockere Umgang mit diesem Thema sicherlich auch daran liegt, dass es an ihrer Fitness keine Zweifel gibt. Im Gegenteil: Von den rekordverdächtigen 78 Matches, die sie in dieser Saison bisher gespielt hat, hat sie 61 gewonnen – 18 davon in drei Sätzen. Auf dem Platz über die volle Distanz zu gehen, ist für sie kein Problem. „Ich bin so fit wie noch nie“, sagt sie. „Wenn du einen starken Willen hast und jeden Tag hart dafür arbeitest, deine Ziele zu erreichen, dann ist es egal, wie alt du bist.“

Auch die Erfahrung, die sie etwa der US-Amerikanerin Madison Keys voraus hat, der mit 21 Jahren und 253 Tagen jüngsten Spielerin in Singapur und am heutigen Donnerstag ihre letzte Gruppengegnerin, sieht Angelique Kerber als großen Vorteil. „Ich bin mental sehr viel stärker geworden und kann deshalb auch viel besser mit Druck umgehen“, sagt sie. „Ich weiß, dass ich auch schwierige Matches gewinnen kann. Und wenn ich dann doch mal verliere, stecke ich das viel besser weg. Früher hatte ich nach Niederlagen immer drei Tage schlechte Laune.“

In der Geschichte des seit 1972 ausgetragenen WTA-Finales nimmt Angelique Kerber, was ihr Alter betrifft, eher einen Mittelplatz ein. Sie kommt bei weitem nicht an Monica Seles heran, die gerade mal 16 Jahre, elf Monate und 16 Tage alt war, als sie dieses Turnier 1990 gewann. Sie ist aber auch noch weit weg von Serena Williams, die 2014 im Alter von 33 Jahren und 30 Tagen siegte. Die legendäre Martina Navratilova war sogar schon 36 Jahre, einen Monat und vier Tage auf der Welt, als sie es 1992 zum insgesamt 14. Mal ins Finale dieses einträglichen Jahresendturniers schaffte – und gegen den Teenager Monica Seles verlor.

Auch wenn Angelique Kerber in Singapur an der Spitze der Alterstabelle abgelöst wurde, so ist sie immer noch die älteste Spielerin, die erstmals die Nummer 1 der Welt wurde. Sie ist auch die einzige Linkshänderin beim WTA-Finale und die Spielerin, die in dieser Saison die meisten Siege gegen Top-Ten-Spielerinnen eingefahren hat – insgesamt zehn. Nur drei dieser Spitzenduelle hat sie verloren.

Auch beim Thema Finanzen zeigen sich die WTA-Statistiker erstaunlich auskunftsfreudig: Genau 9?077?615 Millionen US-Dollar an Preisgeldern hat Angelique Kerber in diesem Jahr bisher eingespielt, so viel wie keine ihrer Konkurrentinnen in Singapur. Mit diesem Rekord kann sie vermutlich am besten leben.

Was ihr Alter angeht, hat sie mit ihren 28 Jahren noch alle Zeit der Welt. Das zeigen die Beispiele anderer Spitzensportler. So hat ihre Erzrivalin Serena Williams in diesem Sommer mit 34 noch einmal Wimbledon gewonnen. Bei Olympia in Rio sprintete der unaufhaltsame Usain Bolt rund um seinen 30. Geburtstag zu drei Goldmedaillen, Superschwimmer Michael Phelps stieg mit 31 sogar fünfmal als Olympiasieger aus dem Becken. Kerber hat also noch viele gute Jahre in den Topregionen der Weltrangliste vor sich, nicht nur wenn man dem Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) glaubt, der einst sagte: „Bist du erst über den Berg, beginnst du Fahrt aufzunehmen.“