Tübingen · Kino

In die fiesen Ecken gucken

Der preisgekrönte Dokumentarfilm „Lord of the Toys“ zeigt die Welt von nach rechts driftenden jungen YouTubern in Dresden.

19.09.2019

Von Dorothee Hermann

André KrummelPrivatbild

André KrummelPrivatbild

Es ist nicht angenehm, Max und seinen Kumpeln zuzusehen. Sie saufen und pöbeln, gerne in aller Öffentlichkeit oder in Privaträumen, die wie besonders trostlose Jugendzimmer aussehen, und filmen sich dabei. Damit bringen es die 19- bis 20-Jährigen (nur einer ist 24 Jahre alt) auf mehr als 300 000 aktive Follower auf YouTube und anderen Social-Media-Kanälen.

Nach ein paar Live-Begegnungen mit Fans im preisgekrönten Dokumentarfilm „Lord of the Toys“ zu schließen, sind die Follower vorwiegend ebenfalls männliche Jugendliche, ein paar Jahre jünger als ihre rülpsenden Idole. In deren Wortschatz ist „verfickt“ eines der meistbenutzten Adjektive und poppt deutlich häufiger auf als Naziparolen. „Schwul“ kommt nur als Schimpfwort vor, wird als Grenzüberschreitung verstanden, gelegentlich inszeniert und vielleicht auch insgeheim ersehnt.

Pablo Ben Yakov und André Krummel von der Filmakademie Baden-Württemberg begleiteten die Clique im Sommer 2017 mit der Kamera durch Dresden. Am Dienstagabend stellten sie ihren Film im Tübinger Kino Arsenal vor. Die beiden haben selbst einen Ost-West-Hintergrund: Der 33-jährige Ben Yakov kommt aus Saarbrücken, der drei Jahre jüngere Krummel aus dem 260-Einwohner-Dorf Hackpfüffel bei Sangerhausen in Sachsen-Anhalt.

Alle in der Clique haben Ausbildungsberufe, sagten die beiden im Gespräch mit den Tübinger Zuschauern. „Sie würden auch Jobs finden.“ Es sei nicht mehr wie bei den Neonazis nach der Wende, die keine Arbeit und keine Perspektiven hatten.

Max „Adlersson“ Herzberg war Einzelhandelskaufmann bei einer Supermarktkette. „Aber die Rückmeldung, die man bei Edeka an der Kasse bekommt, ist viel unattraktiver, als als Influencer Produkte zu rezensieren und Fanpost zu bekommen“, so Ben Yakov.

Pablo Ben YakovPrivatbild

Pablo Ben YakovPrivatbild

In seiner Clique ist Max am erfolgreichsten. Er bewirbt im Netz unter anderem Springmesser oder Tools für Netzvideos und finanziert sich dadurch.

Vielleicht doch wieder zu arbeiten, um YouTube nicht mehr beliefern zu müssen, bleibt Randüberlegung eines einzelnen. Max ist überzeugt: „Das ist das, was ich mache, ab und zu mal die Kamera draufhalten. Wenn ich die Kamera nicht draufhalte, passiert genau das Gleiche.“

Für ihre Follower inszeniert sich die Gruppe vorzugsweise als (ostdeutsche) Loser. Alkohol, Energydrinks und Fanpost (auch teilweise eklige mit Urinprobe) scheinen ihnen deutlich wichtiger als Sex oder gar Beziehungen – was genau zu ihrer jüngeren Zielgruppe passt. „Sie wünschen sich eigentlich Nähe, aber die Welt, die sie sich gebaut haben, lässt das nicht zu“, sagte Krummel.

Elias ist der einzige Schwarze in der Clique. Im Film ist zu sehen, wie ihn ein angetrunkener, etwa 15 Jahre älterer Neonazi blöd anmacht. Die Situation entschärft sich überraschend, als Elias etwas sagt und der Rechtsradikale überrascht feststellt, dass der andere Sächsisch spricht wie er selbst.

Hinter den obsessiv durchgezogenen Pubertätsritualen weist der Film in eine bedrückende emotionale Leere, wie sie sich nicht nur in Dresden und bei jungen Männern wie Max finden dürfte. Es ist beklemmend zu sehen, wie schnell Verlorenheit, Langeweile und exzessive Selbstverhöhnung in krude Radikalisierung umschlagen können. Im Vorfeld des Dokfilmfests Leipzig, wo er den Hauptpreis für den besten deutschen Dokumentarfilm holte, war der Film umstritten: Er biete den Protagonisten distanzlos eine weitere Plattform. Es gab Forderungen, ihn wieder aus dem Programm zu nehmen. Doch die Jury bescheinigte dem Film „eine schmerzhafte politische Brisanz“. Die Tübinger Zuschauer waren beeindruckt, wie differenziert die beiden Filmemacher vorgehen. Auf jeden Fall gelingen ihnen alarmierende Einblicke in die erste YouTube-Generation.

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Erstellt:
19.09.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 43sec
zuletzt aktualisiert: 19.09.2019, 01:00 Uhr

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