Ungleichheit

„Katastrophale“ Entwicklung

Auch in Horb nimmt Altersarmut zu. Wir sprachen mit Vertretern von kirchlichen und Sozialverbänden über Ursachen und Folgen.

16.02.2019

Von Philipp Koebnik

Ein inzwischen allenthalben sichtbares Symptom der wachsenden Altersarmut: Rentner, die Pfandflaschen sammeln. Bild: Karl-Heinz Kuball

Ein inzwischen allenthalben sichtbares Symptom der wachsenden Altersarmut: Rentner, die Pfandflaschen sammeln. Bild: Karl-Heinz Kuball

Mitunter ist es die blanke Verzweiflung, die die Leute zu ihm treibt, weiß Manfred Fath. Der 63-jährige Sozialberater des Sozialverbands VdK hilft zwar Menschen jeden Alters, die bei ihm Rat suchen. Doch seit Jahren kommen immer mehr Ältere, berichtet er. Nicht selten geschieht es, dass Besucher in seinem Büro anfangen zu weinen. „Das geht wirklich an die Nieren“, sagt Fath, der auch Vorsitzender des Horber VdK-Ortsverbands ist. „Mehr alte Menschen machen sich Sorgen, weil sie nicht wissen, wie es weitergeht.“ Sie wollen ihren Kindern nicht zur Last fallen, etwa durch die hohen Kosten eines Platzes im Pflegeheim. „Das kriegt man alles mit, auch hier in Horb.“

Fath hat auch mit Menschen zu tun, die erst in einigen Jahren ins Rentenalter eintreten, jedoch absehbar von Altersarmut bedroht sind; Leute, die Ende 40 sind und ihren niedrigen Rentenbescheid zum Gespräch mitbringen; Menschen, bei denen Krebs diagnostiziert wurde, die arbeitsunfähig geworden sind und Fath zufolge sagen: „Ich komme nicht mehr über die Runden.“

Er habe eine „Lotsenfunktion“, sagt VdK-Berater Fath. Er gibt Tipps und vermittelt die richtigen Ansprechpartner. Von den Behörden seien viele Menschen enttäuscht. Manche hätten gar Angst, dorthin zu gehen. Sie würden abgeschreckt von Sachbearbeitern, die unfreundlich und teils inkompetent seien oder Ratsuchende brüsk abwiesen.

Als „katastrophal“ bezeichnet Paul Schobel die Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung zwischen 1998 und 2005. Der 79-Jährige ist ehemaliger Betriebsseelsorger der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Als er 1973 anfing, gehörte er zu den ersten Betriebsseelsorgern in der Region, war bei Daimler in Sindelfingen im Einsatz und als Böblinger auch für den Landkreis Freudenstadt zuständig. Schobel begleitete Betriebsräte und Arbeitslose, war bei Streiks dabei, hielt Vorträge, kümmerte sich um Mobbing-Opfer. „Ich war sehr nah am Betriebsgeschehen dran“, sagt der 79-Jährige, der nach wie vor in diesem Bereich unterwegs ist. Von 1992 an war er Chef der zehn Betriebsseelsorger in der Diözese. Nicht nur den Wandel der Arbeitswelt, auch die Folgen einer immer rigoroseren Sozialpolitik hat Schobel gleichsam hautnah miterlebt.

Im Zuge der „Agenda 2010“ und der Einführung von „Hartz IV“ ist ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden. Denn Arbeitslose können faktisch gezwungen werden, jede Stelle anzunehmen, was den Billigjobs und der Leiharbeit massiv Auftrieb verliehen hat. Der zehn Jahre nach „Hartz IV“ eingeführte Mindestlohn hat nur bei den zuvor besonders schlecht bezahlten Jobs Abhilfe geschaffen. Um sich eine auskömmliche Rente zu erarbeiten, reiche auch er nicht, sagt Schobel.

Verheerend sei die Zunahme von Minijobs, denn bei ihnen werden keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, also auch keine Rentenanwartschaften erworben. Eine „Katastrophe“ sei es auch, dass nur noch 50 Prozent aller Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten. Zum Vergleich: In Österreich sind es 98 Prozent.

Schobel weiß: Von Altersarmut sind vor allem Frauen betroffen. Sie verdienen im Durchschnitt nicht nur weniger als Männer und arbeiten mehr in Teilzeit, sondern haben auch häufiger unterbrochene Erwerbsbiografien wegen der Erziehung von Kindern. Nicht selten habe er „erschütternde Dinge“ erlebt. Etwa, wenn eine Großmutter verzweifelt, weil sie ihrem Enkel kein Geburtstagsgeschenk kaufen kann.

Armut gehe zudem häufig mit Vereinsamung einher, berichtet Schobel. Denn viele Menschen, die in Armut fallen, zögen sich aus Scham zurück. Sie nähmen keine Einladungen mehr an aus Angst, zu einer Gegeneinladung verpflichtet zu sein – und etwas gutes zum Essen und Trinken anbieten zu müssen. In diesem Bereich werde also zuerst gespart. Es folgt die Kleidung. Erst an dritter Stelle werde beim Essen gespart. Im Winter stünden manche alte Menschen vor der Frage: „warm oder satt?“ Denn beides zugleich, eine ordentliche Mahlzeit und ein gemütlich beheiztes Heim, können sie sich nicht leisten. Daher sind manche Vesperkirchen laut Schobel geradezu überfüllt. Immerhin: Auf dem Land sei das soziale Netz noch intakter als in den großen Städten.

Früher sei die Horber Vesperkirche vor allem von Solidaritätsessern besucht worden, doch seit zwei, drei Jahren kämen immer mehr Bedürftige, darunter viele Alte, berichtet Rüdiger Holderried, Sozialberater bei der Caritas. Auch der hiesige Tafelladen werde vermehrt von Rentnern aufgesucht. Doch sei das Thema Armut gerade bei Älteren „sehr schambehaftet“, so der 40-Jährige. Die Betroffenen wollten niemandem zur Last fallen, auch nicht den Kindern. Ein bisschen habe das auch was Schwäbisches – nach dem Motto: „Des kriega mer schon no.“

Das erfährt auch Sabine Laabs-Buschbacher, Sozialpädagogin bei der Erlacher Höhe, einer Evangelischen Obdachlosenhilfe, wo sie für die Fachberatungsstelle und das ambulant betreute Wohnen in Horb zuständig ist. Die Scham der Älteren und ihr Wille, den eigenen Kindern nicht zur Last zu fallen, sei immens. Die Folge: „Verdeckte Altersarmut ist sehr groß.“ Auch die Verschuldung im Alter habe „eklatant zugenommen“. Etwa, weil jemand unbedingt verhindern will, seine Wohnung aufgeben zu müssen. Außerdem hat Laabs-Buschbacher eine „erhebliche“ Zunahme der Zahl Bedürftiger im Alter zwischen Ende 50 und 65 beobachtet. Sie geht davon aus, dass Altersarmut in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.

Alle vier Gesprächspartner der SÜDWEST PRESSE sprechen sich für eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung aus – auch, wenn es sich bei dem SPD-Vorschlag nur um eine Reparation handle, wie etwa Schobel sagt. Die Grundrente müsse aus Steuermitteln finanziert werden, da es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handle, findet nicht nur Fath. Freilich müssten Besserverdienende, Vermögende und Konzerne mehr Steuern zahlen.

Schobel, Fath und Holderried plädieren für eine Bürgerversicherung, also eine Sozialversicherung, in die alle einzahlen und bei der alle Einkunftsarten herangezogen werden, also zum Beispiel auch Aktiendividenden. Die Beitragsbemessungsgrenze gehöre abgeschafft. Im Westen liegt sie derzeit bei 6700 Euro brutto im Monat – wer mehr verdient, dessen Beitrag steigt also nicht mehr, sondern sinkt prozentual. Schobel dazu ironisch: „Toll, dass die Solidarität bei einer bestimmten Einkommensgrenze aufhört!“

Die Privatisierung der Rente sei der „größte Flopp aller Zeiten“, beklagt Schobel. Das habe man etwa gesehen, als durch die Finanzkrise in den USA die Altersvorsorge von Millionen Beschäftigten quasi „verpufft“ ist. Die umlagefinanzierte Rente sei nach wie vor das beste System. Nur müsse sie (wieder) auf tragfähige Füße gestellt werden.

Das Alter sei sowieso „nichts für Feiglinge“, sagt Schobel. Ältere erführen „Einschränkungen auf Schritt und Tritt“, etwa bei der Gesundheit und der Mobilität. Nach und nach sterben die Freunde. Es sei „eine Beleidigung, eine Schmach“, wenn dann noch materielle Armut hinzukomme. Auch, weil man im Alter so viel Zeit wie nie zuvor für Kultur habe. Doch die Besuche im Museum oder im Theater müsse man sich eben auch leisten können. Bilder: Philipp Koebnik

Heils „Respektrente“: nur wenig mehr als Grundsicherung

Eine Grundrente, auch „Respektrente“ genannt, will Bundesarbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) für jene Menschen einführen, die mindestens 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben. Einige Sozialverbände haben den Vorschlag als Schritt in die richtige Richtung begrüßt. In ihrem Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, dass langjährig Versicherte im Alter zehn Prozent mehr als die Grundsicherung haben sollen, also etwa 875 Euro (die Grundsicherung liegt bei durchschnittlich 796 Euro, einschließlich Miete). Heils Vorschlag würde dazu führen, dass Menschen, die 35 bis 40 Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, rund 900 bis 960 Euro Rente herausbekämen. Nach Abzug des Pflege- und Krankenversicherungsbeitrags blieben netto etwa 800 bis 855 Euro.

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Erstellt:
16.02.2019, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 16.02.2019, 01:00 Uhr

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