Auf der Suche nach einer vergeblichen Geschichte

Kein Buch, kein Frühling und kein Haarausfall

Faule Ferientage in Reutlingen. Die Sonne scheint wieder kräftig, doch noch macht sich keine rechte Frühlingswärme breit nach diesen winterlichen Tagen.

22.04.2017

Von Matthias Reichert

Passanten in dicken Jacken flanieren durch die Fußgängerzone, Kinder bestaunen die Rieseninsekten von „Science City“. Noch hat der nachmittägliche Sturm auf die Geschäfte nicht begonnen, aber der kommt so sicher wie der nächste verkaufsoffene Sonntag.

„Die Geschichten liegen auf der Straße“, hat mir vor Jahren eine wohlmeinende Kollegin eingeschärft. Stimmt nicht. Heute liegen höchstens Zigarettenkippen herum, trotz des städtischen Wegschmeißverbots. Nicht einmal ein Fünf-Cent-Stück. Die Apotheke in der Fußgängerzone preist ein Wundermittel gegen Haarausfall an. Leider habe ich keinen Haarausfall.

Im Garten des Heimatmuseums entkorken ein Hochzeitspaar und seine Festgäste den Champagner nach der Trauung. Geschlossene Gesellschaft. Ob ich den Bräutigam fragen soll, wie er seine frisch Angetraute kennengelernt hat? Stattdessen halte ich kurze Zwiesprache mit dem riesigen Ohrwurm vor dem Museum und ziehe weiter zur Stadtbibliothek. Eine Streife vom Ordnungsamt scheint das mit wohlwollendem Kopfnicken gutzuheißen.

In der Bibliothek stöbere ich vergeblich nach Stoff zum Welttag des Buches am Sonntag. Ich habe schon so viele Bücher daheim, die ich nicht gelesen habe – das reicht für viele Sonntage. So gehe ich später auch standhaft am Büchertauschregal am Albtorplatz vorbei, ohne Lektüre mitzunehmen: Die Geschichten stehen dort wahrlich auf der Straße, aber ich komme nicht dazu, sie zu lesen.

Ganz ohne Buch setze ich mich in ein Straßencafé. Der Espresso belebt die Lebensgeister. Eine Familie mit Hund läuft vorbei und diskutiert über vermeintlich lukrative Geschäftsmodelle. Wenn ich noch ein paar Jahre warte, habe ich vielleicht doch noch eine Geschichte gefunden.

Warum nicht sogar die Idee für einen Roman? Der vielleicht in Reutlingen spielt. Ich zücke den Kugelschreiber. Einstweilen fällt mir nur ein Nachname ein. Das kann dauern, bis daraus ein Buch wird. Aber ich kann warten. Robert Musil hat sein halbes Leben am „Mann ohne Eigenschaften“ gearbeitet und ist am Ende darüber gestorben, ohne fertigzuwerden: 2000 Seiten und kein Ende.

Der Stadtbummel ist vorbei. Kein Thema, keine Geschichte, kein Roman. Noch nicht einmal eine Reportage. Gut, dass ich wenigstens kein Schriftsteller bin. Nahtlos gehe ich zum Mittagsschläfchen über, lege die Beine hoch und träume vom Welttag der ungeschriebenen Bücher.