Soziales
Armut macht zum Außenseiter
Gibt es „Armut“ in Horb? Bei einer Veranstaltung der Kolpingfamilie sprach Caritas-Leiter Rüdiger Holderried über dieses Thema.
Wenn auch viele Bittsteller beim Pfarramt landeten, so Diakon Klaus Konrad in seiner Begrüßung, und die Kolpingfamilie sich als Sozialverband verstehe, der Hilfe zur Selbsthilfe anbiete, sei die Caritas eine professionelle Stelle „umfassender christlicher Nächstenliebe für bedürftige Menschen“ in den unterschiedlichen Lebenslagen. Mit Floskeln, sie sollten mal was schaffen, seien wirklich Arme nicht abzuspeisen. Wer ganz schnell unten und am Ende sei, finde wenig Hilfe in der Gesellschaft. Darum wolle er erfahren, wie es in Horb aussehe, und wie sich die Kolping und Elisabeth-Verein in das Hilfsangebot einbringen könnten.
Viele bitten nicht um Hilfe
Konkrete Fakten und Zahlen, wie viele Mitbürger von Armut betroffen seien, könne er nicht nennen, machte Holderried gleich zum Einstieg klar. Denn viele trauten sich nicht, um Hilfe zu fragen.
Was den Veranstaltungsteilnehmern spontan zu „Stuttgart“ einfalle, lud er zum Brainstorming ein. Stuttgart 21, Wilhelma, Oper und Konzerte, Konsumtempel, lauteten die ersten Antworten, bis sich auch Vesperkirche und Suppenküche darunter mischten. Üblicherweise wolle man die Großstadt mit einem erfreulichen Erlebnis verbinden. Sein Beruf habe ihm den Sinn für andere Dinge geschärft: Nach Urin stinkende Unterführungen, herumlungernde Bettler, Musikanten oder Punks sehe er dort im Mittelpunkt seiner Beobachtungen, so Holderried. Pfandflaschen in Mülltüten zu sammeln, finde er tragisch. Den Lebensunterhalt mit verschmutzten Flaschen ein wenig zu verbessern, buchstäblich Müll zu Geld zu machen, vermittle ein unangenehmes Gefühl – zumal viele Passanten diese Sammler wenig achtsam anschauten.
Holderried verwies auf die Unterschiede absoluter und relativer Armut. Absolute Armut drücke sich in lebensbedrohendem Hunger aus, den hierzulande nur wenige kennen würden, relative Armut bedeute, mit anderen nicht mithalten zu können, keine Teilhabe am öffentlichen Leben zu besitzen. Als Richtwert gelte ein Einkommen von 60 Prozent des „Median“-Einkommens. Im Jahr 2013 lag der „Median“ bei 1345 Euro, wer unter 807 Euro zur Verfügung hatte, galt als stark armutsgefährdet. Da sei menschenwürdiger Wohnraum nur mit großer Mühe zu erlangen.
Hatte Horb vor drei Jahren die Zahl der freien Wohnungen mit 600 angegeben, so lautet die diesjährige Zahl nur 400. Nach seinen Aufzeichnungen suchten derzeit 100 betreute Personen eine Wohnung, informierte Holderried. Bezieher von Arbeitslosengeld II erhielten zwar einen Zuschuss zur Miete, Fahrkosten seien aber nicht gefördert. In einem vom ÖPNV vernachlässigten Teilort gebe es kaum eine Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu erreichen. Armut bedeute immer einen Mangel, zur finanziellen Armut geselle sich die soziale. Seine „Kunden“ berichteten ihm häufig von dem Gefühl, nicht integriert zu sein, so Holderried. Darum sei ihm das Kulturprogramm mit Theater und Musik zur Zeit der Vesperkirche ungeheuer wichtig. Rosemarie Nitsch machte auf die Vereinsamung aufmerksam, die ihr Elisabethverein entdecke und dem sie mit Hausbesuchen entgegenwirken.
Statistiken sei zu entnehmen, dass 65 Prozent der Gymnasiasten Eltern mit Gymnasialbildung hätten, 47 Prozent der Hauptschüler stammten aus bildungsfernen Familien. Es gebe die viel beschworene Durchlässigkeit, die Chancen seien jedoch äußerst gering, besonders in Baden-Württemberg, so Holderried. Einem Kind, an den Einkauf im Tafelladen gewöhnt, könne schwerlich ein Gegenmodell vermittelt werden. Zwar gebe es das Sprichwort: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, doch sei in der Orientierungslosigkeit nicht zu erkennen, wo der Wille hinführe.
Die von manchen als störend empfundene Horber Bahnhofsszene bestehe aus Menschen, die mangels anderer Möglichkeiten untereinander Kontakt suchen und pflegen. Wer zwei Jahren auf der Straße lebe, sei nur noch extrem schwer unterzubringen, erklärte Holderried. Mangelnde menschliche Bindungen würden durch Hunde kompensiert. Private Vermieter seien gegenüber „risikobehafteten Mieter“ skeptisch. Ob soziale Einrichtungen Wohnungen anmieten und die Mieter entsprechend betreuen könnten, fragte Klaus Konrad nach. Dies sei wegen mangelnder Akzeptanz schwierig, so Holderried: Nur „sehr sanft“ könnten seine freiheitsliebenden Kunden an von ihnen bevormundend eingeschätzte Hilfeleistungen geführt werden.
Vorwurf: Politisches Versagen
Dass existenzbedrohende Strom-Abschaltungen im Gegensatz zum gleichwertig lebenswichtigen Wasser oder Heizung erlaubt sei, empörte die Diskutanten. Eine „erdrückende Lobby kapitalistischer milliardenschwerer Energiekonzerne“ missachte die miserablen Lebensumstände. Dieser Skandal beruhe auf politischem Versagen, warf ein Besucher ein; den Hauptteil des Strompreises machten Abgaben und Steuern aus – wie bei Fernsehgebühren sei ein Sozialtarif leicht bei entsprechendem Willen möglich.
Betrachte man aufmerksam den Arbeitsmarkt, so blieben die prekären Beschäftigungsverhältnisse bei Handelsunternehmen nicht verborgen, beklagte Diakon Konrad. Der Mindestlohn führe unweigerlich in Altersarmut, in der die Rente für 45 Arbeitsjahre unter dem Niveau des ALG II bleibe. Die Sozialpolitik dürfe keine Zweiklassengesellschaft entstehen lassen, die Schere klaffe immer weiter auseinander. Holderried wusste von vielen Rentnerinnen, die aus Schamgefühl auf ihr Recht verzichteten, Aufstockungsbeiträge einzufordern. Das gesamte Sozialsystem müsse neu geordnet werden, statt nur an separaten Stellen kleine Stellschrauben zu drehen, forderte Rüdiger Holderried.