Grundschulempfehlung: „Die Karten offen auf den Tisch legen“

Kinder gezielter fördern · Gymnasien freuen sich, dass sie Grundschulempfehlung wieder sehen dürfen

Mindestens ein 2,5er-Schnitt in den Hauptfächern Mathe und Deutsch: Das mussten Kinder früher haben, um aufs Gymnasium zu dürfen. Seit 2012 ist die Grundschulempfehlung nicht mehr verbindlich.

15.03.2018

Von Claudia Jochen und Gabi Schweizer

Große Pause am Quenstedt: Trotz Frühlingswetters wagen nur wenige sich auf den Schulhof. Bild: Rippmann

Große Pause am Quenstedt: Trotz Frühlingswetters wagen nur wenige sich auf den Schulhof. Bild: Rippmann

Es gibt sie zwar nach wie vor, so dass Eltern und ihre Kinder eine Orientierungshilfe haben – aber die weiterführenden Schulen müssen unabhängig davon alle aufnehmen und durften die Noten auch nicht sehen. Jetzt allerdings haben sich die Vorschriften verändert. Nach wie vor haben Familien freie Schulwahl, aber sie müssen die Grundschulempfehlung wieder vorzeigen.

Quenstedt-Rektorin Annette Bayer und Konrektor Johannes Dorfmüller empfinden das als guten Mittelweg. Zwar wollen sie nicht an der freien Schulwahl rütteln – die sei Elternwille, sagt Bayer. Und es gebe durchaus „Spätentwickler“, weiß Dorfmüller. Aber sie werden alle Eltern zu Beratungsgesprächen einladen, deren Kind keine Gymnasialempfehlung hat. Nach dem Kind schauen – das rät Bayer allen, die nun eine Wahl treffen müssen. Dass die Karten „offen auf dem Tisch liegen“, wie Dorfmüller es ausdrückt, ermöglicht der Schule eine gezieltere Förderung. „Dann wissen wir: Auf dieses Kind müssen wir verstärkt achten“, erklärt Bayer.

Die weiterführende Schule, besonders das Gymnasium, sei eine Herausforderung für Kinder, sagen die beiden. Es gibt viel mehr Fachlehrer als in der Grundschule, und die Schüler sind von Anfang an sehr gefordert. Ab der achten Klasse wird der Stoff zunehmend theoretischer. Wer vormals mit Fleiß zurechtkam, muss die Zellen jetzt ein wenig mehr anstrengen. Dorfmüller ist jedoch auch der Ansicht, dass Intelligenz nicht alles ist, sondern vor allem diejenigen ein Abitur und ein Studium schaffen können, die „strukturiert und hartnäckig“ sind. Schwierig findet es Bayer, wenn „die intrinsische Motivation“ zum Lernen fehlt – was sie immer wieder beobachtet.

Hinzu kommt, dass das Quenstedt – wie mittlerweile die meisten Gymnasien – in acht Jahren zum Abitur führt. Dass viele Eltern gern das G9 zurückhätten, weiß Bayer von ihrer früheren Schule in Metzingen, die beide Züge parallel anbietet. „Entschleunigung würde den Kindern gut tun“, meint Dorfmüller. Zumal die Pubertät für viele eine Zäsur bedeutet. Es ist ganz typisch, dass während dieser Phase die Noten abfallen. Früher standen die Chancen gut, dass Jugendliche sich bis zum Abitur wieder gefangen hatten. Inzwischen sind manche Abiturienten gerade einmal 17. Förderunterricht gibt es auch auf dem Gymnasium, aber eben kein Lernen auf verschiedenen Niveaus wie an den Gemeinschaftsschulen.

Wenn Kinder mit dem Stoff überfordert sind, kann dies auch Auswirkungen auf andere haben. Manchmal reichen bereits zwei oder drei Schüler aus, um die Klassenstruktur zu verändern. Nicht oft, aber immer mal wieder gibt es Klassen, in denen einige Schüler die anderen vom Lernen abhalten – dann sind Gespräche angesagt.

Wenn Kinder eine Klasse wiederholen oder gar die Schule wechseln müssen, tut das ihrem Selbstwertgefühl nicht gut. Vor allem deswegen finden Bayer und Dorfmüller es so wichtig, Kinder auf die für sie passende Schule zu schicken. Ob es mehr Schulwechsler gab, seit die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft wurde, können die Quenstedt-Rektoren jedenfalls statistisch nicht belegen – auch wegen der kurzen Zeitdauer von sechs Jahren. List-Schul-Rektor Udo Kranich tut sich mit einer Einschätzung ebenfalls schwer, er ist erst seit drei Jahren im Amt. Jedoch weiß er von zehn bis 15 Jungen und Mädchen, die jedes Jahr an die Gemeinschaftsschule oder an die (auslaufende) Realschule kommen. Das wiederum sorgt für Platzprobleme. Vor zwei Jahren konnte die Friedrich List-Schule zum Halbjahr keine Sechstklässler aufnehmen, weil die Klassen voll waren. In diesem speziellen Fall gab es eine Lösung – nämlich eine weitere siebte Klasse ab Herbst, in der auch schulinterne Wiederholer aufgefangen wurden. Jetzt ist die sechste Klase schon wieder sehr voll, zumal wohl einige Kinder aus der internationalen Vorbereitungsklasse hinzukommen. „Eine Aufnahme zum nächsten Schuljahr wird sehr schwierig werden“, prognostiziert Kranich. „In einem solchen Fall müssen die Kinder dann entweder die Klasse im Gymnasium wiederholen, oder die Eltern müssten eine andere Schule im Umkreis suchen.“

Auch wenn an der List-Schule alle Kinder willkommen sind: Kranich kann der Grundschulempfehlung einiges abgewinnen: „Wir können zum Beispiel danach schauen, dass die Verteilung in den Klassen einigermaßen gleichmäßig ist“; und die Kolleg(inn)en könnten die Kinder von Anfang an gezielter fördern. Langfristig sei es auch interessant zu beobachten, wie sich die Kinder entwickeln – inwiefern die Grundschulempfehlung richtig lag oder eben nicht.

Gezielte Förderung von Anfang an: Darin sieht auch Karsten Rechentin, Leiter des Karl-von-Frisch-Gymnasiums auf dem Höhnisch, den Hauptvorteil der neuen Regelung, über die er „sehr froh“ ist. Zwar findet auch er es richtig, dass vor allem die Eltern entscheiden, welchen Schulweg ihr Kind einschlägt. Manche starteten eben erst in der fünften oder sechsten Klasse durch. Als die grün-rote Landesregierung jedoch damals beschloss, die Empfehlungen sollten künftig geheim bleiben, habe sie „das Kind mit dem Bade ausgeschüttet“. Vor allem in den ersten beiden Jahren mit freier Schulwahl hat Rechentin beobachtet, dass die Klassen am Gymnasium heterogener wurden. „Das hat sich ein bisschen relativiert.“

„Ich hätte das nicht gebrauch t“, kommentiert Ulrike Pöschl, kommissarische Leiterin der Merian-Gemeinschaftsschule auf dem Höhnisch, die neue Regelung. Nur wenn etwas „ganz schief läuft“, könnte die Grundschulempfehlung auch für sie Orientierung bieten: „Aber nur im Hinblick darauf, welche Unterstützung das Kind sonst noch braucht.“ Gemeinschaftsschulen richten sich ja ohnehin an Kinder unterschiedlicher Begabungen. Immer zum Halbjahr werden die Merian-Fünftklässler in Lerngruppen aufgeteilt, so dass sie den Stoff der Fächer Deutsch, Mathe und Englisch im eigenen Tempo erarbeiten können: auf „Grundniveau“ „Mittlerem Niveau“ und „Erweitertem Niveau“. Lerngruppen gibt es allerdings nur zwei – das „MN“ wird auf beide verteilt, weil die Erfahrung besagt, dass Kinder motivierter lernen, wenn die Gruppe nicht zu homogen ist.

Dass das Gymnasium die Grundschulempfehlung zu sehen bekommt, findet Pöschl aber gut. „Man ist als Lehrer ja oft unsicher“, weiß sie – gerade dann, wenn Fachlehrer eine Klasse nur wenige Stunden unterrichten. „Da dauert es zum Teil ziemlich lange, bis man merkt: Das Kind ist total überfordert.“ Allein in diesem Schuljahr haben zehn Kinder vom Gymnasium auf die Merian-Schule gewechselt, die ab der Achten noch Realschule ist. „Früher waren das weniger“, nämlich zwei oder drei Schüler im Jahr, schätzt Pöschl.

Auch die Gemeinschaftsschule führt zum Abitur – entweder direkt in Tübingen oder über ein berufliches Gymnasium. Jedoch beobachtet Pöschl immer noch eine gewisse Scheu, das Kind an einer Gemeinschaftsschule anzumelden. „Es ist deutlich spürbar, dass die Eltern zum Gymnasium tendieren.“ Das macht sie auch am „sozialen Umfeld“ fest, das manche Familien sich möglichst homogen wünschen. „Die Mischung wird gescheut, obwohl sie die aus der Grundschule kennen.“

Ursula Kasper, Leiterin der Burghofschule Ofterdingen, begrüßt die Vorzeigepflicht. So könnten die weiterführenden Schulen die Eltern noch einmal beraten. Manche hätten nämlich kein Vertrauen in die Beratung der Grundschulen. Lande das Kind auf einer Schule, das es überfordert, könne dies zu einem richtigen „Leidensweg“ werden. Auch ein Schulwechsel führe dann nicht automatisch zum Erfolg: „Denn im Selbstbild hat sich schon niedergeschlagen, dass man ,nichts kann‘“.

„Die Kinder kommen ja nicht in Klasse fünf zurück, sondern von sieben aufwärts“, gibt ihr Gomaringer Kollege Joachim Allgaier von der Schloss-Schule zu bedenken. Dann also, wenn sie in der Pubertät stecken. Seine Werkrealschule wird die neue Regelung wenig betreffen. Dass aber die Gymnasien nochmal eine Chance zur Beratung bekommen, findet er im Interesse der Kinder richtig.

Keine großen Auswirkungen hat die neue Regelung am evangelischen Firstwald-Gymnasium: Als Privatschule durfte es sich auch in den vergangenen Jahren die Grundschulempfehlungen zeigen lassen. Man habe das nicht ausdrücklich verlangt, berichtet Konrektorin Barbara Willenberg, jedoch hätten die Eltern diese freiwillig vorgezeigt. Sie begrüßt das ausdrücklich: „Das hilft, die richtige Entscheidung für die Kinder zu treffen.“ Grundsätzlich findet Willenberg, dass Grundschullehrer die Fähigkeiten eines Kindes gut einschätzen können. Sie weiß aber auch, dass sich die Begabungen nicht immer in den Noten widerspiegeln. Schon immer habe man am Firstwald auch Kinder aufgenommen, die den 2,5er-Schnitt nicht erreichten – wenn die Eltern plausibel machen konnten, dass es Gründe dafür gibt. So könne ein Todesfall in der Familie dafür verantwortlich sein, dass die Noten sich verschlechterten.