Cine-Latino-Gast Vincent Carelli fürchtet einen Staatstreich

Komplott der Eliten gegen die Ureinwohner

Festivalgast Vincent Carelli aus Brasilien befürchtet die Rückkehr der Diktatur in seinem Land – auf dem Rücken der Ureinwohner.

26.04.2017

Von Dorothee Hermann

In Brasilien haben Großgrundbesitzer und Hilfssheriffs die Macht übernommen, sagt Filmemacher Vincent Carelli.Bild: Metz

In Brasilien haben Großgrundbesitzer und Hilfssheriffs die Macht übernommen, sagt Filmemacher Vincent Carelli.Bild: Metz

Vincent Carelli ist sucht das Abenteuer, seit er 16 war. Damals, 1969, verließ der Sohn einer Französin und eines Brasilianers die Millionenstadt São Paulo, um im Indianerdorf Xikrin im Süden des brasilianischen Bundesstaates Pará zu leben. „Es hat mir die Augen geöffnet“, sagte der Dokumentarfilmer am Montagnachmittag im TAGBLATT-Gespräch. Den Kontakt hatte sein älterer Bruder vermittelt, der dominikanische Priester kannte, die mit Indigenen arbeiteten. Carelli wurde Teil der Dorfgemeinschaft, nahm an Jagdzügen teil, lernte, sich im damals noch dichten Urwald zurechtzufinden und Hütten zu bauen.

Die Guarani-Kaiowá im Bundesstaat Mato Grosso do Sul haben keine vergleichbare Lebensgrundlage mehr. Ihre Wälder sind abgeholzt, das jagdbare Wild ist verschwunden, ihre Flüsse wurden von Farmern vergiftet, berichten sie in der bestürzenden Dokumentation „Martírio“ (Martyrium) des 64-jährigen Filmemachers. Ihre Geschichte ist „ein Genozid über 500 Jahre“, sagt Carelli, der seit 30 Jahren immer wieder in das Gebiet gereist ist.

Polizei hilft Landbesitzern

Eine mit versteckter Kamera aufgenommene Szene zeigt, wie Bewaffnete auf Mopeds ein provisorisches Camp in Pyelito Kue bedrohen, das Guarani-Kaiowá in der Nähe einer Farm errichtet haben – auf Land, das eigentlich ihnen zusteht. Schüsse fallen. Vor Gericht kam die Sache nie. „Die Farmer können machen, was sie wollen“, meint Carelli, der den Campbewohnern einen Camcorder dagelassen hatte. „Das ist die Regierungsposition.“

Der Film zeigt die Nähe der Rancher und der Agrarlobby zu den Schaltstellen der Macht auf. Beispielweise hört man die Senatorin Kátia Abreu im Oberhaus des Nationalkongresses fordern: „Wir wollen Frieden! Für diejenigen, die das Land bearbeiten!“

Weil es sich um das Grenzgebiet zu Paraguay handelt, mische sich auch die Armee ein und eine spezielle Grenzpolizei, die Drogen- und Waffenschmuggler aufgreifen soll. „Sie helfen häufig den Landbesitzern“, sagt Carelli.

Es sei Privatleuten gesetzlich verboten, Bewaffnete anzuheuern. Doch die Farmer halten sich nicht daran, sagt er. Im Film ist eine Viehauktion zu sehen, die angeblich Geld für Gerichtskosten einsammeln, tatsächlich aber bewaffnete Wachleute finanzieren soll.

Die besondere Ungerechtigkeit dabei ist: Wer zum Zeitpunkt der letzten brasilianischen Verfassung im Jahr 1988 auf einem bestimmten Gebiet lebte, dem wurde ein Rechtsanspruch zuerkannt, erläutert der Filmemacher. „Die Guarani-Kaiowá lebten damals nicht auf ihrem Land, weil sie in winzige Reservate deportiert worden waren.“ Der Prozess der Enteignung sei in staatlichen Dokumenten festgehalten, nicht nur in der mündlichen Überlieferung der Indianer, betont er. „Sie können mit diesen Dokumenten beweisen, was ihnen angetan wurde und ihre Landansprüche legitimieren. Das war das Hauptziel meines Films.“

Ein Komplott der Eliten

Für die brasilianische Öffentlichkeit sei diese Perspektive – das Verhältnis zwischen dem brasilianischen Staat, dem Agrobusiness und den Indianern – etwas ganz Neues, sagt Carelli. „Die Brasilianer sind total gespalten, wenn es um die Rechte von Indigenen geht.“ Doch das vermeintliche Minderheitenproblem wirkt sich auf die gesamte Gesellschaft aus: „All diese Großgrundbesitzer und Hilfssheriffs“ seien die Leute, die nun in Brasilien die Macht übernommen haben. „Es ist ein Komplott der Eliten“, ist der Filmemacher überzeugt. „Sie wollen die verfassungsgemäß garantierten Beihilfen und die sozialen Rechte abschaffen. Das nennt sich Verfassungsreform.“ Die Ureinwohner rückten dadurch an die Spitze des Widerstands.

Carelli fürchtet: „Wir kehren zu einer Art Diktatur zurück.“ Im Vorfeld der für das kommende Jahr anvisierten Präsidentenwahl werde massiv gegen die Arbeiterpartei Stimmung gemacht. „Die Medienstationen gehören fünf Familien. Sie bereiten den Putsch vor.“ Die Polizei gehe schon jetzt hart gegen Proteste und Streiks vor, mit Tränengas, Gummigeschossen und Massenfestnahmen. „Die letzte Diktatur in Brasilien hat 21 Jahre gedauert. Wir hoffen, wir werden sie diesmal schneller wieder los.“

Der Dokumentarfilm „Martírio“ läuft heute um 20.30 Uhr im Kino Museum. Englische Untertitel.

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Erstellt:
26.04.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 54sec
zuletzt aktualisiert: 26.04.2017, 01:00 Uhr

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