Berlin

Kritik an der «unausgegorenen» Idee vom Gratis-Nahverkehr

Der Vorschlag der Bundesregierung, mit kostenlosem Nahverkehr gegen Feinstaub und Stickoxide vorzugehen, stößt bei aller Begeisterung auch vielfach auf Skepsis.

14.02.2018

Von dpa/lsw

Ein selbstfahrendes Shuttle fährt auf dem Flughafen in Frankfurt am Main. Foto: Andreas Arnold/Archiv dpa/lsw

Ein selbstfahrendes Shuttle fährt auf dem Flughafen in Frankfurt am Main. Foto: Andreas Arnold/Archiv dpa/lsw

Berlin. Schon allein aus Kapazitätsgründen wäre solch ein Konzept in deutschen Großstädten und Ballungsräumen kurzfristig überhaupt nicht umsetzbar, sagen Fachleute. Erforderlich seien in jedem Fall deutlich mehr Fahrzeuge und Personal. Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) kritisierte den Vorschlag deshalb als «unausgegoren».

«Es wäre ja schön, wenn der Bund sich intensiver um den Nahverkehr in den Kommunen kümmert. Aber man sollte nicht den dritten Schritt vor dem ersten machen», sagte Kuhn am Mittwoch. Zunächst müsse der Bund mehr Investitionen für den Ausbau zur Verfügung stellen, erst dann könnten auch die Fahrpreise gesenkt werden. Die Busse und Bahnen in Stuttgart und der Region seien jetzt schon voll. Allein in die Infrastruktur der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) müsse man 500 Millionen Euro stecken, wenn ein höherer Kundenandrang bewältigt werden soll.

Wenn es für kostenlosen Nahverkehr keine ausreichende Kapazität gebe, könnte solch ein Angebot sogar negative Auswirkungen haben, sagen Fachleute. «Noch stärker überfüllte Busse und Bahnen zu den Spitzenzeiten würden bei den Kunden zu unglaublicher Frustration führen», glaubt Bastian Chlond vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Der Verkehrsexperte empfiehlt, sich auf ein besseres ÖPNV-Angebot in den Nebenzeiten zu konzentrieren.

Da nämlich sei eine kürzere Taktung kein Problem, sagt Chlond. In Kombination mit Gratis-Tickets könne man dann Menschen locken, die den ÖPNV seltener nutzen und deshalb normalerweise die relativ teuren Einzeltickets kaufen. Sie seien meist ohnehin in den Nebenzeiten unterwegs. Wenn es beispielsweise gelänge, dass mehr Rentner und Einkäufer mit Bus und Bahn anstatt mit dem Auto in die Stadt fahren, könne das durchaus etwas bringen.

In Mannheim, einer der geplanten Modellstädte, glaubt man auch nicht, dass kostenloses Fahren von heute auf morgen vollständig realisierbar ist. «Als schnell umsetzbare und kurzfristig wirksame Maßnahme sehe ich nur Verbesserungen im ÖPNV - dazu zählen zum Beispiel attraktive Fahrpreise, dichtere Takte und neue Verbindungen», sagte Bürgermeister und ÖPNV-Dezernent Christian Specht am Dienstag. «Wir werden uns nun mit dem Bund zusammensetzen, um zielführende ÖPNV-Maßnahmen für Mannheim zu besprechen.» Würde der Verkehrsverbund Rhein-Necker seine öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos anbieten, spreche man über Kosten in Höhe von 300 Millionen Euro pro Jahr - ohne das notwendige Geld für Instandhaltung und weiteren Ausbau.

Beim Stuttgarter Verkehrsverbund sieht man freie Fahrt für alle Gäste ebenfalls kritisch. «Eine Dienstleistung, die nichts kostet, ist schwierig. «Was nichts kostet, ist nichts wert», heißt es ja oft. Die Dienstleistung muss einen Wert haben, sonst wird sie nicht gewürdigt», sagte VVS-Sprecherin Ulrike Weißinger am Mittwoch. Außerdem bestehe die Gefahr, dass die Qualität des Angebots leiden könnte, wenn der Bund lediglich die fehlenden Ticket-Einnahmen zuschießt, aber darüber hinaus kein Geld für Wartung vorhanden sei.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) hingegen sieht seine Stadt für die offenen Fragen rund um den kostenlosen ÖPNV gewappnet. Er hat sich am Mittwoch mit einem Brief an die Bundesregierung gewandt und darum gebeten, Tübingen mit seinen 90 000 Einwohnern neben Mannheim, Herrenberg und Reutlingen zur vierten Modellstadt im Südwesten zu machen. Das fertige Konzept dafür sei bereits vorhanden.

Demnach müssten rund neun Millionen Euro Fahrgeldeinnahmen im Jahr ersetzt werden, damit die Tübinger gratis Bus und Bahn fahren können. Fällt die «Barriere Fahrpreis», rechnet die Kommune mit einem Drittel mehr Fahrgäste. Schon heute nutzen die Kunden den Tübinger ÖPNV nach Palmers Angaben für rund 20 Millionen Fahrten im Jahr. Würde diese Zahl bei freier Fahrt wie prognostiziert um rund sieben Millionen Fahrten steigen, wolle man die Kapazität des Busverkehrs um ein Drittel ausbauen. Das würde noch einmal sechs Millionen Euro kosten.

Boris Palmer ist nicht der einzige OB, der grüne Mobilität vorantreibt. Die Stadt Herrenberg arbeitet ebenfalls an einer entsprechenden Strategie und erhält dafür sogar schon finanzielle Unterstützung vom Bund, nämlich 90 000 Euro Fördermittel aus dem «Fonds nachhaltige Mobilität für die Stadt». Kostenlosen ÖPNV sieht Herrenbergs Oberbürgermeister Thomas Sprißler (Freie Wähler) denn auch grundsätzlich positiv. «Ich glaube schon, dass man damit den Individualverkehr reduzieren kann», sagt er. Vor zwei Jahren habe man in seiner Stadt das «Stadtticket» verbilligt angeboten und es sei sofort ein Fahrgastzuwachs verzeichnet worden.

Erfahrung wird auch Tübingen sammeln: Erst vor einer Woche hatte die Stadt kostenlose Busse an Samstagen eingeführt, der Gemeinderat hatte dafür 200 000 Euro bereitgestellt. Das Projekt war auch deshalb entstanden, weil ein zentrales Parkhaus der Stadt für eine Dauer von 20 Monaten saniert werden soll und dadurch viele Parkplätze wegfallen.

Ein selbstfahrendes Shuttle fährt auf dem Flughafen in Frankfurt am Main. Foto: Andreas Arnold/Archiv dpa/lsw

Ein selbstfahrendes Shuttle fährt auf dem Flughafen in Frankfurt am Main. Foto: Andreas Arnold/Archiv dpa/lsw

Tübingens OB Boris Palmer schreibt an Hendricks, Schmidt und Altmaier

Im Zuge der Debatte um einen möglichen kostenlosen Nahverkehr hat der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer am Mittwoch einen Brief an Umweltministerin Barbara Hendricks, Verkehrsminister Christian Schmidt und Kanzleramtschef Peter Altmaier geschickt.