Lorenzo Zimmer über Tübingens einzige Großraum-Disco

„Last night a Pizza saved my life“

Waaaaas? Da gehst du hin? Mittlerweile kann ich nicht mehr zählen, wie oft ich diese Frage – mit entsprechendem Entsetzen in der Stimme – von jungen Kollegen, früheren Weggefährten oder neuen Bekanntschaften gehört habe.

26.03.2018

Von Lorenzo Zimmer

Zugegeben: Tübingens einzige Großraumdisco – das Top 10 in der Reutlinger Straße – sehe ich heute nicht mehr so häufig von innen, wie noch in seiner Anfangsphase. Doch den schlechten Ruf, den die Disco bei älteren wie jüngeren Nachtschwärmern hat, hat sie aus meiner Sicht nicht verdient.

Vor zehn Jahren, im April 2008, öffnete sie ihre Pforten. Keineswegs ohne Diskussionen. Anwohner fürchteten Partygäste, die in ihre Vorgärten pinkeln und Flaschen wegwerfen, die durch ihren Aufprall schnell zu Scherben werden. Sie fürchteten wummernde Bässe bis in die Morgenstunden und fühlten sich gleich am ersten Abend bestätigt. Ich werde nicht vergessen – ich war gerade 22 Jahre alt und auf Heimatbesuch in Tübingen –, wie viele Menschen sich am Eröffnungsabend auf dem Parkplatz des Depot-Einkaufscenters drängten.

Der Erfolg schien auch danach nicht abreißen zu wollen. Mittwochs war im Club der Studententag angesagt. Eigentlich hätte sich dafür der Donnerstag angeboten, weil viele Studierende am Freitag gerne länger schlafen. Doch die Half-Price-Night im damals florierenden Blauen Turm lief blendend und statt sich gegenseitig die Gäste abzugraben, wich das Top 10 auf den Mittwoch aus. Lockte die Studierenden mit günstigen Getränken und freiem Eintritt. Mit großem Erfolg.

Bis ... – ja, was eigentlich? Genau lässt sich nicht sagen, wann in der Community der Tübinger Partygänger die Stimmung gegenüber dem Top 10 kippte. Ältere Stammgäste wuchsen zunehmend aus dem Alter heraus, in dem es sie jedes Wochenende auf die Piste drängte, und die jüngeren Studierenden fanden bald Gefallen an den schnuckligeren Bars und kleinen Clubs in Tübingens Innenstadt. Ribingurumu, Collegium, Schwarzes Schaf, Butterbrezel und andere etablierten sich. Zurecht.

Die Gründe dafür dürften vielschichtig sein. Erstens sehnt sich der Zeitgeist der feierwütigen jungen Leute eher nach versifft-charmanten Kellerlocations, in denen man in vertrauter Runde auf die Kacke haut. Und zeitweise genossen auch die Türsteher der Großraumdisco nicht den besten Ruf in der Partygemeinschaft. Immer mal wieder gingen Gerüchte rum von bewusst im toten Winkel der Kameras gesetzten Schlägen und Tritten seitens des Personals, von Prügeleien auf der Tanzfläche und gefühlt willkürlichen „Du kommst hier nicht rein“-Entscheidungen. Und gerade mit Letzterem vergraulte sich das Top 10 sicherlich einige Gäste, denn in einem Laden abgewiesen zu werden, der gerüchteweise immer wieder mit der Wirtschaftlichkeit und damit der Schließung kämpfte, stieß bei vielen auf Unverständnis.

Wenn ich das Top 10 heutzutage gelegentlich besuche, kann ich mich nicht beschweren. Die Türsteher, die die Pforten im Moment hüten, wirken professionell und freundlich, das Bar-Personal mixt akzeptable Drinks, obwohl sie gelegentlich überfordert und unterbesetzt zu sein scheinen. Das passiert aber auch im familiären Kellerclub.

Das Top 10 bemüht sich um bekannte Elektro-DJs – aber auch an Hiphop-Abenden stehen Leute an den Plattentellern, die genau wissen, wie sie dem gewaltigen Saal, der nur „Hauptraum“ genannt wird, einheizen. In der Shisha-Bar, im Club-Raum und dem Apres-Ski-mäßigen Fiesta-Raum findet außerdem wirklich jedes Partytierchen sein Plaisierchen. Das macht das Top 10 in Tübingens Partylandschaft einzigartig und für mich erhaltenswert. Und wenn es nur für die drei Abende im Jahr ist, an denen man sich als Teil einer Gruppe nicht im vollen Gewölbekeller totschwitzen will. Das Top 10 bleibt ein Ort fürs Feiern mit ausreichend Platz. Und im Gegensatz zu den eher studentisch geprägten Läden zieht das Top 10 Publikum auch aus dem Umland an.

Hier feiert eben nicht nur der Zahnmedizin-Ersti, sondern auch der Schreiner-Geselle aus Balingen und der Erzieher aus Sindelfingen. Aus meiner Sicht sind diese Begegnungen Balsam für Tübingens Studentenseele. Nicht selten habe ich mit diesen Gästen bis in die Morgenstunden an einer der Bars diskutiert, geschäkert, Schnäpse gekippt. Und ganz am Ende rettet dann der Pizza-Bäcker, der bis heute im Foyer der Disco heiße Nüchtern-Macher verkauft, den Gästen vor Antritt des Heimwegs die Nacht.