Reutlinger Lebenslagenbericht

Leben ohne Ziel und Struktur

Alleinlebenden langzeitarbeitslosen Menschen droht trotz vielfältiger Hilfen der gesellschaftliche Ausschluss.

08.10.2016

Von Bernhard Haage

Nach den Themen „Alleinerziehende“ und „Kinderreiche Familien“ ist nun der dritte Lebenslagenbericht für den Kreis Reutlingen erschienen. Er widmet sich ausführlich der Situation alleinlebender Langzeitarbeitsloser. In Abstimmung der Verbände der LIGA (Liga der freien Wohlfahrtsverbände), den Sozialverwaltungen von Landkreis und Stadt sowie dem Jobcenter des Kreises Reutlingen wurde der Bericht von einer Expertenrunde erarbeitet, die wissenschaftlich begleitet wurde.

Die Vielschichtigkeit und zunehmende Brisanz des Themas wird dabei nicht nur anhand von Zahlen dokumentiert, sondern es kommen im dritten Kapitel auch alleinlebende Langzeitarbeitslose selbst zu Wort. Insgesamt 13 Interviews veranschaulichen, dass es sich bei ihnen keineswegs um eine homogene Gruppe handelt. So wird dokumentiert, dass beispielsweise das Bildungsniveau von Hauptschule bis Hochschulabschluss reicht und dass sich auch die biografischen Brüche, die der Langzeitarbeitslosigkeit vorangegangen sind, keineswegs über einen Kamm scheren lassen.

Etwas allerdings verbindet die Befragten dann doch: Es sind die psychologisch Folgen, die stark vom Wertekodex des sozialen Umfeldes mitbestimmt werden. Besonders belastend ist auch die Ausgrenzung mangels materieller Möglichkeiten: Wer nicht über ausreichend Mittel verfügt, ist von vielen gesellschaftlichen Belangen ausgeschlossen. Auch das Fehlen einer sinnvollen Tagesstruktur wird von den Allermeisten als schwierig empfunden. Das Selbstwertgefühl und damit auch die Fähigkeit, autonom zu handeln, nehmen auf Dauer Schaden. Häufige Folgen sind Suchtproblematiken, nicht gesellschaftskonforme Verhaltensweisen oder psychische Erkrankungen.

In Reutlingen bieten einige freie Wohlfahrtsträger unterschiedliche Hilfen an: Von der Lebensberatung, der psychosozialen und oder der Suchtberatung, über Schuldnerberatung bis hin zu Arbeitsgelegenheiten, die einen niederschwelligen Wiedereinstieg in ein geregeltes Berufsleben unterstützen. Auch diese dokumentieren im Bericht ihre Erfahrungen mit der besonderen Lebenslage alleinlebender Langzeitarbeitsloser. Ganz wichtiger Aspekt sind dabei Erhalt oder Wiedererlangen von Wohnraum, für den sich die Arbeiterwohlfahrt mit Hilfen für Menschen in Wohnungsnot engagiert.

Interessant ist auch der Blick auf die staatlichen Hilfsangebote über die Jobcenter. Trotz Sanktionsmöglichkeiten und Pflichten, welche die Langzeitarbeitslosen zu erfüllen haben, werden sie keineswegs durchweg als negativ empfunden. Gefragt sind allerdings niederschwellige Angebote für eine Rückkehr ins „normale“ Arbeits- und Sozialleben mit niedrigen Stufen, die bewusste Schritte und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit erlauben.

Der Lebenslagenbericht zur Situation von alleinlebenden langzeitarbeitslosen Menschen zeigt das ganze Spektrum der mit dieser Lebenssituation verbundenen Problematiken und wie groß der Bedarf an unterschiedlichsten Hilfen zur Selbsthilfe ist. Er unterstreicht zudem, dass sich die Brisanz angesichts eines akuten Mangels an bezahlbarem Wohnraum und niederschwelligen Arbeitsmöglichkeiten auch für Ungelernte oder nicht mehr voll leistungsfähige Menschen Jahr für Jahr verschärft.

1810 alleinlebende Langzeitleistungsbezieher im Kreis Reutlingen

Als langzeitarbeitslos gelten erwerbsfähige Leistungsberechtigte ab 15 Jahren, die in den vergangenen 12 Monaten arbeitslos waren. Langzeitleistungsbezieher sind Personen, die in einem Zeitraum von 24 Monaten mindesten 21 Monate lang hilfebedürftig waren. Zu dieser Gruppe zählen auch Personen, die ergänzend zum Einkommen aufstockend Arbeitslosengeld II benötigen. Insgesamt gab es im Untersuchungszeitraum des Lebenslagenberichts im Landkreis Reutlingen 1810 alleinlebende Langzeitleistungsbezieher. Von diesen waren wiederum 715 Personen statistisch gesehen auch langzeitarbeitslos. Der Lebenslagenbericht wird am 21. Oktober von 14 bis 16 Uhr im Spitalhofsaal vorgestellt und erläutert. Dabei referiert Prof. Tim Obermaier um 13.30 Uhr zum Thema: „ Wer sind die sogenannten Langzeitarbeitslosen?“ Obermaier ist Geschäftsführer und Projektleiter am Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM) der Hochschule Koblenz.