Wohnkosten nicht willkürlich begrenzen

Lebenshilfe setzt sich für Nachbesserungen beim geplanten Bundesteilhabegesetz ein

Im Internet kursiert bereits eine Petition gegen das neugefasste Bundesteilhabegesetz: Vor allem Menschen mit geistiger Behinderung könnten erneut ausgegrenzt werden. Nun lud die Lebenshilfe Reutlingen am Dienstagabend zur Diskussion ins Kaffeehäusle.

15.09.2016

Von DOROTHEE HERMANN

M. Rosemann

M. Rosemann

Reutlingen. Die vier Bundestagsabgeordneten Michael Donth (CDU), Heike Hänsel (Linke), Beate Müller-Gemmeke (Grüne) und Martin Rosemann (SPD) sollten im Kaffeehäusle den Gesetzentwurf beurteilen. Zunächst gab der Lebenshilfe-Landesgeschäftsführer Ingo Pezina einen Überblick über das geplante Bundesteilhabegesetz, das aus seiner Sicht auch Vereinfachungen vorsieht: „Ich wende mich an einen Reha-Träger und bekomme von ihm alle Leistungen, die ich brauche“, so der Jurist.

Wer in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen arbeitet, soll künftig Mitbestimmungsrechte haben – statt nur Mitwirkungsrechte wie bisher. Zudem soll jede Werkstatt eine Frauenbeauftragte bekommen. Problematisch findet Pezina die vorgesehenen Kriterien für „besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung“: Berechtigt sei nur, wer mehr als fünf von neun möglichen Einschränkungen nachweisen kann. Sind es weniger als fünf Beeinträchtigungen, hat der jeweilige Reha-Träger einen Ermessensspielraum. „Diese Hürde ist zu hoch“, fasste der Jurist die Position der Lebenshilfe zusammen.

Er warnte vor einer möglichen Überlappung von Eingliederungshilfe und Pflege: Im häuslichen Umfeld sollen Leistungen aus der Pflegeversicherung Vorrang haben. Maximal gebe es dafür 266 Euro monatlich. „Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf brauchen zur Teilhabe beides: Eingliederungshilfe und Leistungen aus der Pflegeversicherung.“

Besorgt stimmt Pezina zudem, dass Eingliederungshilfe nach dem Gesetzentwurf vorrangig für die medizinische Rehabilitation, für die Teilnahme am Arbeitsleben (auch in Werkstätten) oder an Bildung vorgesehen ist. Die soziale Teilhabe, insbesondere auch Assistenzleistungen, werde als nachrangig eingestuft, kritisierte er. Assistenzleistungen umfassen Hilfen bei Alltagserledigungen sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben.

Zudem sollen Assistenzleistungen für mehrere Berechtigte gemeinsam erbracht werden können. „Es darf keinen Gemeinschaftszwang geben“, betonte Pezina. „Menschen mit Behinderung dürfen nicht gezwungen werden, ihre Unterstützung mit anderen zu teilen – vor allem nicht bei Wohnen und Freizeit.“

Ein weiterer Knackpunkt: Die Leistungen zum Lebensunterhalt werden genauso geregelt wie bei Menschen ohne Behinderung. Bei der Eingliederungshilfe solle die Vermögensfreigrenze auf zirka 50 000 Euro angehoben werden. Bei Leistungen zum Lebensunterhalt bleiben weiterhin 2600 Euro anrechnungsfrei. Der Lebenshilfe-Jurist sagte dazu: „Auch behinderte Menschen sollen die Möglichkeit haben, etwas anzusparen, beispielsweise für einen Urlaub.“

Für das Wohnen soll die Durchschnittsmiete eines Einpersonenhaushalts angesetzt werden, berichtete er. Menschen mit Behinderung könnten auf Antrag ausnahmsweise 25 Prozent mehr Geld erhalten. „Die Wohnkosten dürfen nicht willkürlich begrenzt werden“, bekräftigte Pezina. „Sonst verlieren viele Menschen mit geistiger Behinderung ihr Zuhause.“

Manche Assistenzhilfen ließen sich ohne Zwang bündeln, so der CDU-Politiker Donth, beispielsweise Fahrleistungen: „Es gibt ja auch den Fall, dass man etwas zusammen machen möchte.“ Freiwilligkeit müsse aber Vorrang haben. Martin Rosemann (SPD) begrüßte es, dass das neue Gesetz Teilhabeleistungen aus der Sozialhilfe heraushole. Die Vermögensfreigrenzen für Menschen mit Behinderung anzuheben, sei kaum durchführbar. „Sonst müsste man allen Sozialhilfebeziehern höhere Freigrenzen zugestehen.“

Für die Linke kritisierte Heike Hänsel den Ermessensspielraum des jeweiligen Reha-Trägers: Wer in einer reicheren Kommune lebe, habe mehr Chancen als jemand in einer ärmeren. Beate Müller-Gemmeke von den Grünen warnte davor, Eingliederungshilfe als nachrangig gegenüber Pflegeleistungen zu behandeln. Es sei bedenklich, wenn der Grundsatz „ambulant vor stationär“ aus Kostengründen zurückgefahren würde. Archivbilder

Michael Donth

Michael Donth

Müller-Gemmeke

Müller-Gemmeke

Heike Hänsel

Heike Hänsel

Kaufzwang statt Sparen, befürchten Betroffene

Der Reutlinger Rolf Rathfelder arbeitet in einer Werkstatt der Bruderhausdiakonie und wohnt in einer Wohngruppe. Wenn er von seiner Arbeitsprämie von monatlich 160 Euro und seinem Taschengeld in gleicher Höhe mehr als 2600 Euro angespart hat, wird ihm der Überschuss abgezogen. So werde er quasi gezwungen, etwas zu kaufen, kritisierte er bei der Diskussion im Kaffeehäusle. Dabei würde er gern etwas für eine Reise oder eine Stereoanlage ansparen. Seine Kollegin Brigitte Edelmann befürchtet, dass ihr künftig keine Betreuerin mehr zusteht, die mit ihr einmal in der Woche Rechnungen und Kontoauszüge durchsieht und auch mal mit zum Arzt geht. Sie könnte zu selbstständig sein, um noch als berechtigt zu gelten.