Tübinger Forschung: Lesen macht kurzsichtig

Lieber weiß auf schwarz statt schwarz auf weiß

Beim Lesen kann man sich also doch die Augen verderben. Aber es scheint eine einfache Strategie dagegen zu geben, nämlich den Kontrast von Schwarz auf Weiß umzukehren.

19.07.2018

Von Ulla Steuernagel

Andrea C. Aleman, Min Wang und Frank Schaeffel. Bild: Schaeffel / Institut für Augenheilkunde

Andrea C. Aleman, Min Wang und Frank Schaeffel. Bild: Schaeffel / Institut für Augenheilkunde

Lesen scheint über jeden Zweifel erhaben. Eltern wünschen sich lesende Kinder, Lesen bildet, Lesen ist besser als stures Glotzen. Allerdings haben viele auch noch den warnenden Satz der Großeltern im Kopf: Verdirb dir nicht die Augen! Er bezog sich vor allem auf das Lesen im Bett bei schummriger Beleuchtung. Lange war das als überholter Mythos abgeschrieben. Nun haben Forscher der Universität Tübingen herausgefunden, dass das Lesen tatsächlich den Augen schaden kann, nämlich Kurzsichtigkeit produzieren. Ihre Forschungsergebnisse haben sie im Journal „Scientific Reports Nature“ veröffentlicht.

Zunächst einmal stand eine Zahl im Raum: etwa die Hälfte der Abiturienten in Deutschland ist kurzsichtig. Bei Kurzsichtigkeit (Myopie) wächst das Auge zu lang, mehr als 24 Millimeter sollte es nicht messen. Denn dann wird das Bild vor der Netzhaut scharf abgebildet und man sieht in der Ferne unscharf. Wer in seiner Ausbildung viel liest, erhöht das Risiko, kurzsichtig zu werden – pro Ausbildungsjahr etwa um eine Viertel-Dioptrie.

Strategie gegen Myopie

Andrea C. Aleman, Min Wang und Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Tübingen haben sich nun mit der Beziehung zwischen Lesen und Kurzsichtigkeit befasst und daraus eine, wie es in der Pressemitteilung des Uniklinikums heißt, „überraschend einfache Strategie gegen die Entwicklung einer Myopie“ abgeleitet.

Was genau beim Lesen kurzsichtig macht, ist immer noch nicht klar erforscht. Lange wurde angenommen, dass zu wenig Akkommodation beim Lesen, also zu wenig dynamische Anpassung des Auges an verschiedene Entfernungen, das scharfe Bild hinter die Netzhaut verlegt. Das wiederum veranlasse die Netzhaut, das Auge schneller wachsen zu lassen. Diese Daten schienen den Forschern aber nie vollständig überzeugend.

Die Tübinger Wissenschaftler haben nun eine andere Beeinflussung der Netzhaut ausgemacht. Anders als eine Digitalkamera, die jeden Pixel ausliest, misst die Netzhaut – also die innere Augenhaut, die Licht in Nervenimpulse umwandelt – hauptsächlich Unterschiede zwischen benachbarten „Pixeln“, den Photorezeptoren. Dies wird erreicht, indem Zellen die Helligkeit in der Mitte und der Peripherie ihres lichtempfindlichen Bereiches vergleichen, und nur den Unterschied an das Gehirn weiterleiten. Die Sehinformation wird also massiv reduziert, was notwendig ist, da die Netzhaut zwar über rund 125 Millionen „Pixel“ verfügt, der Sehnerv aber nur über etwa eine Million „Kabel“. Der Sehnerv ist damit der Flaschenhals der Informationsübertragung.

In der Netzhaut gibt es Zellen, die bewerten, ob in ihrem lichtempfindlichen Bereich (rezeptiven Feld) die Mitte heller und die Umgebung dunkler ist (ON-Zellen). Andere wiederum bewerten, ob die Mitte dunkler, und die Umgebung heller ist (OFF-Zellen). Während der normalen Seherfahrung werden beide Typen ähnlich stark gereizt.

Beim Lesen ist das allerdings anders, so hat Schaeffel mit einer dafür entwickelten Software belegt. Dabei hat sich gezeigt, dass dunkler Text auf hellem Hintergrund hauptsächlich die OFF-Zellen reizt, während heller Text auf dunklem Hintergrund hauptsächlich die ON-Zellen anspricht .

Aleman, Wang und Schaeffel haben Probanden dunklen Text auf hellem Hintergrund lesen lassen sowie hellen Text auf dunklem Hintergrund. Bereits nach 30 Minuten konnten sie messen, dass die Aderhaut – die Schicht hinter der Netzhaut, die das Wachstum des Auges vorhersagt – dünner wurde, wenn schwarzer Text gelesen wurde, und dicker bei Text mit umgekehrtem Kontrast.

Dies lässt erwarten, dass schwarzer Text auf hellem Hintergrund die Myopieentwicklung fördert, und heller Text auf dunklem Hintergrund sie hemmt. Den Textkontrast umzukehren, wäre deshalb eine einfach umzusetzende Maßnahme, die Myopieentwicklung aufzuhalten, denn immer mehr Zeit wird beim Arbeiten und Lesen an Computerbildschirmen und Tablets verbracht.

Studie in China geplant

Was folgt aus den Forschungserkenntnissen der Tübinger Wissenschaftler? Eine temporäre Umkehr der Schrift von Weiß auf Schwarz scheint demnach geboten. Beim digitalen Lesen wäre das kein Problem. Doch bevor es eine kontrollierte Studie dazu gibt, können noch keine praktischen Schlüsse aus den Forschungsergebnissen gezogen werden.

Diese Studie, so sagt Frank Schaeffel gegenüber dem TAGBLATT, werde bald in China anlaufen. Zwar dürfte es auch in Deutschland gegen eine Lesestudie an Kindern wenig ethische Vorbehalte geben, doch in China seien wesentlich weniger bürokratische Hürden zu überwinden.

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Erstellt:
19.07.2018, 21:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 05sec
zuletzt aktualisiert: 19.07.2018, 21:00 Uhr

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