Aufwühlend und aufrüttelnd: Aborigine-Kinder fliehen vor ihrer kulturellen Enteignung.

Long walk home

Aufwühlend und aufrüttelnd: Aborigine-Kinder fliehen vor ihrer kulturellen Enteignung.

24.11.2015

Von che

Long walk home

Die Genozid-Keule lassen wir mal im Waffenschrank, aber ein hochgradig rassistisches Schurkenstück war es schon, was die australische Regierung im vorigen Jahrhundert den Ureinwohnern des Kontinents antat. Zwischen 1910 und 1976 wurden kraft Gesetzes etwa 100 000 Aborigine-Kinder, meistens Mischlinge, ihren Müttern weggenommen, in Umerziehungslager gesteckt und später zur Arbeit bei weißen Familien abkommandiert. Alle Erinnerungen der Kinder an ihre Kultur sollten getilgt und langfristig die Aborigine-Gene aus der australischen Bevölkerung herausgezüchtet werden. Experten machen die Traumata dieser Verschleppungen (bei Eltern und Kindern) mitverantwortlich für den unter den Ureinwohnern verbreiteten Selbsthass, die Apathie und den Alkoholismus.

„Long Walk Home? handelt von drei Mädchen, die 1931 aus einer Siedlung im Nordwesten Australiens entführt und in ein 2000 Kilometer entferntes Lager gebracht werden. Genau zwei Tage halten sie es dort aus, ehe sie versuchen, was noch keinem vorher gelungen war: die Flucht nach Hause. Als Orientierung dient ihnen der kaninchensichere Zaun („Rabbit-proof Fence? heißr der Film im Original), der sich quer durch den ganzen Kontinent zieht.

Die Geschichte ist einigermaßen authentisch. Sie folgt den Erinnerungen der heute 85-jährigen Molly Craig, die von ihrer Tochter aufgeschrieben und 1996 als Buch veröffentlicht wurden. Es war mit dafür verantwortlich, dass über die nationale Schande in Australien heute wenigstens offen diskutiert wird.

Der Film dürfte der Debatte weiteren Auftrieb geben, zumal er ganz auf ein großes Publikum zugeschnitten ist. Regisseur Phillip Noyce, der mit „Der stille Amerikaner? gerade einen weiteren politisch brisanten Film am Laufen hat, zieht alle Register populistischen Politkinos, das den historischen Prozess umstandslos individualisiert und emotionalisiert. Die drei Mädchen sind perfekte Sympathieträger. Kenneth Branagh als aalglatter Ober-Deportator ? ein Bilderbuch-Bösewicht. Die Flucht ? als packende Verfolgungsjagd inszeniert. Weil der Film die historische Gerechtigkeit auf seiner Seite hat, nimmt man solche Vereinfachungen in der Tradition klassischer Aufrüttelfilme wie „The Killing Fields? gerne hin.

Was „Long Walk Home? allerdings weit über den Durchschnitt eines politisch korrekten Unterhaltungsfilms hinaushebt, ist seine Optik. Die teilweise ins Hypnotische verfremdeten Bilder von Kameramann Christopher Doyle (aus dem Team des Avantgardisten Wong Kar-wei) machen die mal bedrohliche, mal idyllische Landschaft Westaustraliens zum Mitakteur. Die Flucht erscheint als Trip in die eigene Natur-verwurzelte Identität, als Behauptung des universellen Rechts auf selbstbestimmtes Leben, mag es der Logik der Zivilisation auch noch so zuwiderlaufen.

Zu einem vernünftigen Ende gebracht ist diese Debatte übrigens noch lange nicht. Nach wie vor ist die Lebenslage der meisten australischen Ureinwohner desaströs. Ob die 63 Millionen Dollar, die die Regierung 1997 als Wiedergutmachung bewilligt hat, das rassistische Unrecht abgilt, darf bezweifelt werden.