Manchester by the Sea

Manchester by the Sea

In dem oscarreifen Drama geht ein Mann zurück in seine Heimatstadt, wo er einst große Schuld auf sich geladen hat.

16.01.2016

Von Klaus-Peter Eichele

Hausmeister sind ja oft etwas seltsame Zeitgenossen, aber Lee Chandler (Casey Affleck) ist nochmal ein spezieller Fall. Zuverlässig, aber ohne jede menschliche Regung, beinahe zombiehaft, verrichtet der etwa 40-Jährige Reparatur- und Reinigungsdienste in einem Mietshaus nahe Boston. Nach der Arbeit verzieht er sich in in ein finsteres, kaum möbliertes Kellerkabuff. Filmische Blitzlichter aus seiner Vergangenheit lassen jedoch erahnen, dass dieser Kerl nicht immer so ein Griesgram war. Es muss etwas passiert sein, das ihn in dieses freudlose Exil getrieben hat.

Ein Anruf aus seiner alten Heimat, der Kleinstadt Manchester an der rauen Küste Neuenglands, bringt Bewegung in das stumpfe Leben des Eremiten. Der Tod seines Bruders zwingt Lee zur Rückkehr an den Ort, den er offenbar am liebsten aus seiner Erinnerung tilgen würde. In puzzlehaften Rückblenden entfaltet sich nun die Katastrophe, die ihn aus einer passablen Existenz mit Ehefrau (Michelle Williams) und zwei kleinen Kindern gerissen hat – wobei viele Details bis zum Schluss unklar bleiben.

Doch ist die entscheidende Frage ohnehin eine andere: Wird es Lee gelingen, die Gespenster der Vergangenheit – allen voran: den Hass auf sich selbst – abzuschütteln und einen Weg zurück ins Leben zu finden? Dafür hat ihm sein verstorbener Bruder sogar eine goldene Brücke gebaut: Laut Testament soll Lee die Vormundschaft für dessen 16-jährigen Sohn (Newcomer Lucas Hedges) übernehmen, mit dem er sich in glücklicheren Zeiten prächtig verstanden hat. Doch Lee zögert, sich der Herausforderung zu stellen. Denn dazu müsste er heraus aus seinem Kokon, der zwar quälend eng ist, doch auch Schutz vor weiteren Verletzungen gewährt.

Der dritte Spielfilm von Kenneth Lonergan („You Can Count On Me“) zählt neben „La La Land“ zu den großen Oscar-Favoriten – wobei man gar nicht weiß, in welcher Kategorie man ihm die Auszeichnung am ehesten wünschen sollte: Drehbuch, Regie, Bildgestaltung, Haupt- und Nebendarsteller – alles ist hier gleichermaßen superb. Casey Affleck liefert in der Rolle des an Herz und Seele Schwerverwundeten eine Meisterleistung. Mit minimalistisch introvertiertem Spiel lässt er den Zuschauer spüren, was es bedeutet, wenn einer das eigene Leben nicht mehr erträgt. Sein Zwiegespräch mit Michelle Williams dürfte zu den erschütterndsten fünf Minuten der Filmgeschichte zählen.

Erstaunlich ist aber auch, wie es dem Regisseur gelingt, die bedrückende Geschichte vor dem Absturz in ein bleiernes Drama zu bewahren. Zwar wird Lees Traurigkeit von den Bildern des winterlich kalten Küstenorts anfangs noch akzentuiert, doch wohnt dem liebevoll gezeichneten Kleinstadt-Milieu auch eine tröstliche Vertrautheit inne. Für komische, mitunter slapstickhafte Kontrapunkte sorgt die Beziehung zwischen Lee und seinem Neffen, der den Verlust seines Vaters auf spezielle Art bewältigt: indem er umso rigider ins Teenagerleben mit Sex & Rock’n’Roll durchstartet.

Nicht erwarten sollte man jedoch eine schnelle Heilung des Heimkehrers nach Feelgood-Muster. Es gibt Schmerzen, weiß dieser kluge Film, die sich nicht einfach wegleben lassen.

Von einem, der das Leben nicht mehr aushält – fein austariert zwischen Tragik, Melancholie und einem Schimmer Hoffnung.