Rührend-groteske Sozialstudie über eine Mutter, die in die Prostitution abrutscht.

Maria

Rührend-groteske Sozialstudie über eine Mutter, die in die Prostitution abrutscht.

24.11.2015

Von che

Maria

Regisseur Calin Netzer wurde 1976 in Petrosani (Petroschen) in Transsylvanien geboren. Doch schon als Achtjähriger wanderte er mit seiner Mutter nach Deutschland aus, der Vater war bereits zwei Jahre früher vor dem Ceaucescu-Regime in den Westen geflohen. In Stuttgart, wo er auch heute wieder lebt, ging Netzer zur Schule und machte das Abitur.

Als nach dem Sturz der Diktatur der Exodus der deutschen Minderheit aus Rumänien einsetzte, schwamm Netzer gegen den Strom. 1994 schrieb er sich an der Bukarester Filmhochschule ein. "Die Ausbildung dort war ideal", sagt der heute 28-Jährige im Interview. Verglichen mit Deutschland seien die Klassen klein und die Zuwendung der Professoren intensiv gewesen. Schon mit seinem Abschlussfilm machte Netzer Furore. Der 25-Minüter "Maria" griff eine wahre Geschichte auf, die damals, Mitte der neunziger Jahre, durch die rumänischen Medien geisterte: Eine junge Mutter, deren Mann im Zuge des Umbruchs zur Marktwirtschaft arbeitslos geworden war, schlittert unaufhaltsam ins Elend und muss sich schließlich als Prostituierte auf Trucker-Parkplätzen verdingen, um ihre neunköpfige Familie durchzubringen.

Der schwarz-weiße Kurzfilm heimste ein halbes Dutzend Festivalpreise (auch bei der Berlinale) ein und erregte die Aufmerksamkeit des deutschen Produzenten Karl Baumgartner, der Netzer bat, eine Langfassung herzustellen. Der Chef der Kölner Pandora-Film machte den jungen Regisseur auch mit dem serbischen Drehbuchautor Gordan Mihic bekannt, der mit den Scripts für Filme von Emir Kusturica ("Time of the Gypsies", "Schwarze Katze, weißer Kater") berühmt geworden war. Das rumänisch-serbische Teamwork erwies sich trotz Sprachbarriere (Mihic spricht nur serbisch) als Glücksfall für das Remake.

"Unser gemeinsamer balkanesischer Humor schweißte uns zusammen", sagt Netzer. "So kamen wir schnell überein, dass wir kein schweres Melodrama machen wollten, sondern eine Tragikomödie". Mihic unterfütterte den finsteren Plot mit grotesken Episoden und kauzigen Figuren: einem Freund der Familie etwa, der immer verrücktere Ideen zum Geldverdienen entwickelt - so einen zeitweise gut florierenden Sex-Service für mitteleuropäische Lastwagen-Fahrerinnen. Auf der anderen Seite sorgt Netzer mit sehr genauer Milieuzeichnung dafür, dass "Maria" auch als Dokument der sozialen Verheerung im neu-kapitalistischen Rumänien überzeugt. Für die Bodenhaftung der Passionsgeschichte sorgt in der Titelrolle auch die Bukarester Theater-Aktrice Diana Dumbrava, die dafür in Locarno zurecht mit einem Leoparden bedacht wurde.

"Als ich 1997 den Kurzfilm drehte, schien mir Marias Schicksal noch sehr außergewöhnlich", erzählt Netzer. "Inzwischen stehen in der Zeitung fast täglich ähnliche Geschichten, zum Beispiel von Müttern, die ihre Babys verkaufen". Die Kluft zwischen Armen und Reichen werde in Rumänien, das 2010 EU-Mitglied sein will, immer größer. Auch mit der Familie der "echten" Maria, die 1996 bei einem Autounfall starb, ging es trotz des Medienrummels weiter bergab. Ihre Tochter geht wie die Mutter auf den Strich, ein Sohn rutschte in die Kriminalität.