Umfrage unter Tübinger Türken und Türkinnen

Meinungen zum Referendum: Viele fürchten eine Diktatur

Per Volksabstimmung will der türkische Staatspräsident Erdogan seine Macht massiv ausbauen. Was sagen Wahlberechtigte aus Tübingen dazu?

10.04.2017

Von Philipp Koebnik

„Tübingen sagt Nein“: An der Fassade des Vereinshauses in der Eisenbahnstraße haben die Mitglieder des Alevitischen Kulturvereins ein Transparent angebracht, das dazu aufruft, dem geplanten Verfassungsreferendum eine klare Absage zu erteilen. Bild: Koebnik

„Tübingen sagt Nein“: An der Fassade des Vereinshauses in der Eisenbahnstraße haben die Mitglieder des Alevitischen Kulturvereins ein Transparent angebracht, das dazu aufruft, dem geplanten Verfassungsreferendum eine klare Absage zu erteilen. Bild: Koebnik

Am 16. April stimmen die Menschen in der Türkei über die von der AKP-Regierung angestrebte Verfassungsreform ab, die dem Staatspräsidenten eine ungekannte Machtfülle verleihen soll. Trotz des herrschenden Ausnahmezustands und der einseitigen Berichterstattung in den türkischen Medien sehen Umfragen einen knappen Wahlausgang voraus. Umso wichtiger ist für Präsident Recep Tayyip Erdogan das Votum der im Ausland lebenden Türkinnen und Türken.

In Deutschland sind rund 1,4 Millionen Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft wahlberechtigt. Bis zum gestrigen Sonntag konnten sie in neun türkischen Generalkonsulaten ihre Stimme abgeben. In vier weiteren Städten gab es Wahllokale, weil die dortigen Konsulate nicht genügend Platz boten. Wir wollten wissen, wie die in Tübingen lebenden und wahlberechtigten Deutschtürken über das geplante Verfassungsreferendum denken und wie sie abgestimmt haben – so sie denn zur Wahl gingen.

„Ich stimme mit Nein, weil ich nicht will, dass Erdogan noch mehr Macht bekommt. Es reicht, was er jetzt schon alles machen kann“, sagt etwa Serhat Kisin, Mitarbeiter in einem Tübinger Café. Der 25-jährige Kurde lebt seit 2002 in Deutschland. „Wir mussten fliehen, weil meinem Vater Gefängnis drohte wegen angeblicher Unterstützung der PKK“, berichtet er. Ihm war es deshalb sehr wichtig, zur Wahl zu gehen, um einen weiteren Machtzuwachs Erdogans zu verhindern.

Jedoch haben nicht alle eine klare Meinung über die politische Situation in der Türkei. „Ich sehe keinen Sinn darin, zur Wahl zu gehen“, sagt Murat Dogan, Inhaber des Aksayray. „Wir leben hier schließlich in Deutschland und können die Lage schwer einschätzen.“ Der 32-Jährige ist ebenfalls Kurde und kam vor über 20 Jahren mit seiner Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland. „Viele stimmen ab, ohne Bescheid zu wissen“, kritisiert er. Er hingegen könne nicht beurteilen, was das geplante Gesetz konkret bedeute, welche Folgen es hätte. Die türkische Gesellschaft sei extrem polarisiert. Beide Seiten überhäuften sich mit Vorwürfen statt über Inhalte zu reden, was es schwierig mache, sich eine fundierte Meinung zu bilden.

Einige Befragte wollten aus Angst vor negativen Reaktionen anderer Deutschtürken nicht ihren Nachnamen nennen oder sich fotografieren lassen. Viele fürchten zudem Repression, sollten sie mal wieder in die Türkei reisen. Und nicht wenige befürchten, dass ihre in der Türkei lebenden Verwandten Probleme bekommen könnten – nicht zu Unrecht, ist doch inzwischen bekannt, dass türkische Geheimdienste auch in Deutschland lebende Landsleute ausspionieren.

„Es droht eine Ein-Mann-Herrschaft“, findet Mehmet, Vorsitzender des Alevitischen Kulturvereins Tübingen und Umgebung. Erdogans Anhänger würden ihm einfach folgen, ohne zu wissen, was die Verfassungsreform tatsächlich bedeute. „Das Gesetz wird nicht erklärt und seine Gegner werden einfach als Terroristen abgestempelt.“

Während AKP-Politiker mit Militärflugzeugen durchs Land flögen, also auf Staatskosten Wahlkampf machten, dürften die Reformgegner nicht mal öffentliche Hallen nutzen. Neben den Kurden hätten es auch die Aleviten in der Türkei schwer, da radikale Muslime sie als Ungläubige sähen. Auch Erdogan sei „gegen die Aleviten“, so Mehmet. „Wenn es ein Ja gibt, wird es noch schlimmer“, ist er sich sicher. Er hat deshalb mit Nein gestimmt.

Auch Ayfer und Suna sind Alevitinnen. Warum sie mit Nein stimmen? „Wir wollen Freiheit“, betont Ayfer. Erdogan wolle, dass Frauen unauffällig sind, Kopftuch tragen, sich um Haushalt und Kinder kümmern. „Wir haben 2017, wir wollen nicht 50 Jahre zurück“, so die 47-jährige Krankenhausangestellte – „Wir wollen Gleichberechtigung!“

„Ich bin ja eine Sünderin“, sagt Suna ironisch und zeigt auf ihre Tätowierungen an Armen, Hals und Gesicht. Die Religion werde in der Türkei zunehmend zur Unterdrückung missbraucht. „Die Leute haben Angst, auf der Straße etwas zu trinken, wenn Ramadan ist.“ Immer wieder gebe es verbale und körperliche Übergriffe gegen jene, die sich nicht den strengen Glaubensregeln unterwerfen. Aber nicht nur das: „Es gibt viel Armut und Arbeitslosigkeit, aber statt etwas dagegen zu tun, lässt Erdogan ständig neue Moscheen bauen.“

Im Türkischen Verein Tübingen und Umgebung sind die Meinungen geteilt. So hat der Busfahrer Balci Sevket „mit großem Nein“ gestimmt. Die Verfassungsreform ebne den Weg zur Diktatur, sagt der 57-Jährige. Bislang habe die Regierung antidemokratisch agiert, habe außenpolitisch und wirtschaftlich Schaden angerichtet, die Pressefreiheit angegriffen: „Warum sollte sie jetzt etwas Gutes vorhaben?“

Anders sieht es Balci Metin, der mit Ja abgestimmt hat. Seit die AKP an der Macht ist, werde die Türkei „so gut regiert wie noch nie zuvor“. Ging es dem Land wirtschaftlich lange schlecht, so habe es unter Erdogan einen großen Aufschwung erlebt. Die Medien hierzulande würden jedoch überwiegend ein falsches Bild vermitteln – und die EU habe schlichtweg Angst vor einer unabhängigen Türkei, glaubt der 47-jährige Schreiner.

Mit Nein gestimmt hat hingegen Nizamettin Demirdag, mit 85 Jahren das älteste Mitglied im Türkischen Verein. Es gehe darum, die Demokratie zu retten, sagt er. Denn das Parlament hätte nach der Reform praktisch nichts mehr zu sagen. „Nur der Präsident wird dann entscheiden.“ Zudem bekäme Erdogan einen großen Einfluss auf die Gerichte. „Die Justiz muss aber unabhängig sein“, so Demirdag.

Vermutlich werde etwa die Hälfte der Vereinsmitglieder mit Ja, die andere Hälfte mit Nein stimmen, schätzt der Vorsitzende Ömer Öz, IT-Fachmann, der in Kirchheim unter Teck für SAP arbeitet. Ihm sei es wichtig, „dass die Werte Atatürks, nämlich Demokratie und Laizismus, erhalten bleiben“. Außerdem wünscht er sich, dass „die Türken in Deutschland untereinander friedlich bleiben“. Für die Türkei hofft er auf „mehr Demokratie“ und darauf, dass die Fronten in der Gesellschaft nicht so verhärtet bleiben – „Sonst sehe ich schwarz.“

Aus Furcht, man könne ihren Pass einziehen, ist Betül Havva Yilmaz nicht zur Wahl gegangen. Die türkische Gastwissenschaftlerin wird in der Türkei politisch verfolgt, weil sie sich für den Frieden mit den Kurden im Land einsetzt (wir berichteten). „Ich hätte natürlich mit Nein gestimmt, weil ich gegen eine Diktatur bin“, betont sie. Zwar funktioniere das Parlament auch heute nicht, aber nach der Reform hätten die Abgeordneten gar nichts mehr zu sagen.

„Es ist jetzt schon eine Diktatur, aber nach einem Ja wird alles noch schlimmer“, sagt auch Hatice Kenan. Die Inhaberin des Lebensmittelgeschäfts Frischtor Feinkost hat gegen die Reform gestimmt. Als alevitische Kurdin wäre das Leben für sie in der Türkei gefährlich. Denn durch das reaktionäre Frauenbild der AKP fühlten sich diejenigen bestärkt, die fortschrittliche Frauen auf der Straße anpöbeln und angreifen, so die 31-Jährige.

Sowohl für die Wirtschaft als auch für die Menschenrechte habe die AKP viel getan, ist dagegen der Vorsitzende der Tübinger Ditib-Zentralmoschee Ali Lezgi überzeugt: „Seit Erdogan da ist, dürfen alle so leben, wie sie wollen.“ Frauen dürften in öffentlichen Einrichtungen Kopftuch tragen und die kurdische Sprache werde nicht mehr unterdrückt. Das Präsidialsystem wäre „genauso wie in Amerika“. Die deutschen Medien würden das jedoch falsch und einseitig darstellen. Auch Cem Aydin befürwortet die Reform. „Danach wird Erdogan weniger Macht haben“, meint er. Schließlich dürfe der Präsident dann nur noch zweimal gewählt werden, so der 38-Jährige, der in Neuerer Geschichte promoviert. Bilder: Koebnik, Metz (1)