Shoa-Gedenkkonzert

Mit Bleistift an die Zellenwand geschrieben

Erinnern, Wiederentdecken, Gedenken – das war für Norbert Kirchmann schon immer Anliegen und Ansporn. Am Sonntag spielt sein Tübinger Ärzteorchester eine Erstaufführung in der Stiftskirche.

27.10.2016

Von Achim Stricker

Jochen Brusch

Jochen Brusch

Was Ur- und Erstaufführungen betrifft, dürfte der Gründer und Leiter des Tübinger Ärzteorchesters der hiesige Rekordhalter sein. Seit 1984 haben Kirchmann und sein Orchester in über 190 Konzerten eine Fülle an musikalischen Raritäten wiederentdeckt, unzählige Werke und ihre Komponisten der Vergessenheit entrissen.

Dem Gedenken an die Shoa widmet das Tübinger Ärzteorchester nun ein erlesenes Programm: Góreckis „Symphonie der Klagelieder“ – wohl die Tübinger Erstaufführung –, Wieniawskis „Légende“ op. 17 und John Williams‘ Filmmusik zu „Schindlers Liste“. Es wird Kirchmanns vorletztes Konzert sein. Nach 32 Jahren gibt er den Taktstock zum Jahresende weiter. Seinen Abschied nimmt er mit einem „Münchner Weihnachtskonzert“ am Zweiten Adventssonntag in der Stiftskirche.

Die Erinnerung an jüdische Komponisten, die Wiederaufführung ihrer im Nationalsozialismus diffamierten Werke lag Kirchmann immer besonders am Herzen. So hat er von 1979 an auch die Renovierung der Alten Hechinger Synagoge begleitet – aktuell feiert sie das 30-Jahr-Jubiläum ihrer Wiedereröffnung – und ist Vorsitzender des Hechinger Synagogen-Vereins.

Es lag nahe, bei diesem vorletzten Konzert wieder ein besonderes Werk ins Zentrum zu stellen. Schön, Henryk Góreckis dritte Symphonie endlich in Tübingen zu hören. Dabei ist sie zur Abwechslung einmal keine Rarität – ganz im Gegenteil: Sie führte 1992 über Wochen die Pop-Charts in den USA und Großbritannien an – einzigartig in der Geschichte der klassischen Musik. Die CD mit Sopranistin Dawn Upshaw und der London Sinfonietta unter David Zinman wurde weltweit über 1,5 Millionen Mal verkauft und begründete Góreckis Ruhm. Ein englischer Radiosender spielte das Werk auf Hörerwunsch rund um die Uhr.

Ähnlich wie sein polnischer Landsmann Penderecki oder der Este Pärt begann Górecki als atonaler Avantgardist und wandte sich in den 1970ern wieder der Dur-Moll-Tonalität zu. Sein Werk wurde im Westen erst nach 1989 bekannter, darunter die „Symphonie der Klagelieder“. Entstanden im Auftrag des Südwestfunks Baden-Baden, war die Symphonie bei ihrer Uraufführung 1976 zunächst mit Vorbehalt aufgenommen worden: Von einem zeitgenössischen Komponisten erwartete man Atonales oder Geräuschhaftes, keine Dur-Moll-Klänge, keine sakrale, meditative Innerlichkeit und keine minimalistischen Klangflächen, wie sie kurz darauf auch Pärt und die Minimal Music einsetzten.

Im Kopfsatz vertont Górecki ein Marienlied aus dem 15. Jahrhundert, im Finale ein Widerstandslied gegen die zaristische Fremdherrschaft. Dazwischen steht der sphärische Mittelsatz, ein Gebet, das die 18-jährige Helena Blakusiakowna 1944 in einer Zelle im Gestapo-Hauptquartier Zakopane mit Bleistift an die Wand schrieb. Für die Vokalpartie hat Kirchmann die Mezzosopranistin Irina Gulde gewählt: „Sie ist in der damaligen Sowjetunion geboren und spricht Polnisch, was für eine natürlich Klanggebung und die Lyrik der Partie sehr wichtig ist.“

Auch mit dem Tübinger Geiger Jochen Brusch hat das Ärzteorchester schon oft musiziert, unter anderem Wieniawskis Zweites Violinkonzert. Fast alle seine Werke schrieb Wieniawski als Jugendlicher: „technische Virtuosität à la Paganini, kombiniert mit slawischer Melodik“, charakterisiert Brusch. „Aber er geht einen Schritt weiter als Paganini, was den musikalischen Anspruch anbetrifft. Das Publikum war in den 20, 30 Jahren, die zwischen den beiden Geigen-Heroen liegen, anspruchsvoller geworden. Und Wieniawski entspricht diesem Anspruch, indem er die Virtuosität nicht so direkt ausstellt wie Paganini – man könnte fast sagen: bloßstellt –, sondern sie in einen melodischen Kontext einbettet. Wieniawskis Stil und sein Zugang zur Geige ist ein sehr persönlicher. Alles liegt wunderbar geigerisch und bringt das Instrument zum Klingen.“

In der siebenminütigen „Légende“ von 1859 lässt der „Chopin der Geige“ die Violine sich in sehnsuchtsvoller Melancholie zu großen Melodien aufschwingen. „Die Herausforderung des Stücks liegt darin, das leidenschaftlich-slawische Timbre zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei ins Kitschige abzugleiten“, erklärt Brusch: „Das erfordert eine subtile Anwendung des Rubato – also ein Beschleunigen und wieder Verzögern des Tempos – sowie eine ebenfalls feine und geschmackvolle Anwendung des Portamento, ein gleitendes Hinführen von Ton zu Ton, das sehr reizvoll sein kann.“

Das Wichtigste ist eine glutvolle Interpretation mit großem Elan: „Wieniawski selbst muss ungeheuer mitreißend gespielt haben, voll Feuer und Wagemut bei den schwierigen Stellen, gemäß seinem Motto ‚Il faut risquer‘ (‚Man muss etwas riskieren‘).“

Als Wieniawski 1880 mit nur 45 Jahren in Moskau starb, hatte der risikofreudige Spieler sein riesiges Vermögen längst im Casino verspielt.Archivbilder

Norbert Kirchmann

Norbert Kirchmann

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Erstellt:
27.10.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 29sec
zuletzt aktualisiert: 27.10.2016, 01:00 Uhr

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