Freudenstadt · Soziales

Mit jedem weiteren Tag Kontaktsperre wird’s schwieriger

Über seine Erfahrungen aus der Stationären Jugendhilfe unter den erschwerten Bedingungen während der Coronakrise berichtet Hans-Martin Haist.

31.03.2020

Von Hannes Kuhnert

Atemmasken in Heimarbeit: Um dem Mangel an den schützenden Masken zu begegnen, fanden findige Handarbeiter in der Villa Sonnenheim heraus, wie aus ausgedienten Stoff-Taschentücher und den bekannten Eigensinn-Bändeln waschbare und wiederverwertbare Schutzmasken werden. Bild: Hannes Kuhnert

Atemmasken in Heimarbeit: Um dem Mangel an den schützenden Masken zu begegnen, fanden findige Handarbeiter in der Villa Sonnenheim heraus, wie aus ausgedienten Stoff-Taschentücher und den bekannten Eigensinn-Bändeln waschbare und wiederverwertbare Schutzmasken werden. Bild: Hannes Kuhnert

Die Coronakrise trifft in besonderem Maß die Stationäre Jugendhilfe, die Kinder und Jugendliche betreut, die aus verschiedenen Gründen in Wohngruppen und Heimen leben müssen. Die Situation dort ist ähnlich der in der Seniorenpflege. Nur: Die Kinder und Jugendlichen sind quicklebendig, brauchen ständig Anregung, Bewegung, Kontakt, Förderung und emotionale Unterstützung. „Wir können sie doch nicht an sieben Tagen 24 Stunden am Stück im Haus lassen“, sagt Hans-Martin Haist vom Freudenstädter Kinderheim Villa Sonnenheim, einer heilpädagogischen Jugendhilfe-Einrichtung der Stiftung Eigen-Sinn.

Mit ihm sprachen wir über die Stationäre Jugendhilfe in staatlich angeordneten Ferien und Corona-Zeiten. Seine Erfahrungen und Forderungen decken sich mit denen der Einrichtungen Bruderhaus Diakonie Loßburg und Osterhof Baiersbronn-Klosterreichenbach, für die er auch spricht.

„Unser höchstes Gut“, sagt Haist, „sind unsere Mitarbeiter. Sie sind gesund, noch gesund, dürfen eigentlich auch gar nicht krank werden. Einige sind in Quarantäne, aber nicht krank. Wir hoffen das Beste. Wir brauchen sie“. Der Personaleinsatz sei bei knapper Personaldecke eine äußert knifflige Sache. Haist: „Die Krise beschert uns einen enormen Mehraufwand bei einer ohnehin schweren Aufgabe.“

Sieben Tage 24 Stunden

Derzeit wollen und müssen die Kinder und Jugendlichen in der Stationären Jugendhilfe an sieben Tagen rund um die Uhr betreut werden. Kontakte zu Freunden sind nur in Ausnahmefällen möglich. Für viele Kinder ist das sehr schmerzlich. Bei der Jugendhilfe sei, so Haist, eine klare Tagesstruktur wichtig, denn noch seien ja keine Ferien. Also: früh aufstehen, Schulaufgaben mit klaren Pausen, pünktliche Essenszeiten, pünktliche Ruhezeiten. „Schon vor Corona fiel das Lernen vielen unserer betreuten Kinder sehr schwer.“ Bei Kindern aus sieben verschiedenen Schulen und Schularten müsse nun fast jedes Kind einzeln betreut und unterstützt werden.

Das alles verlange viel Geduld und ständiges Ermutigen durch die Mitarbeiter, die sich dazu selbst noch mit dem neuen Lehrstoff für Kinder im Homeoffice anfreunden müssen. Gegen den Heimkoller helfen Freizeitaufgaben, streng nach festen Vorsichtsregeln. Die Gruppen stoßen im Wald oft auf verärgerte Wanderer, da ja bekanntlich Spaziergänge nur zu zweit erlaubt sind. Aber Kindergruppen aus Heimen zählen als „Hausstand“, sind sogar mit zehn Personen gestattet. Auch beim Einkaufen gibt es immer wieder Diskussionen. Wenn die Mitarbeiter aus der Stationären Jugendhilfe ihre Einkaufswagen vollpacken, ist das kein Hamstern: Ein „Hausstand“ mit 24 Personen will nun mal versorgt sein.

Ostern steht vor der Tür. Das bringt Eltern und Kinder in Schwierigkeiten. Heimfahren oder nicht? Jede Familiensituation ist anders. Da sind viele Gespräche mit den Kindern, viele Telefonate mit den Eltern notwendig. Auch Kinderärzte und Mitarbeiter vom Jugendamt werden eingeschaltet. Haist: „Wir sind unendlich dankbar, dass die Zusammenarbeit mit Schulen und Lehrern und dem Jugendamt so gut ist und unbürokratisch klappt.“ Auch der Austausch unter den Jugendhilfe-Einrichtungen funktioniere. „Wir informieren uns gegenseitig immer wieder.“

In der ambulanten Arbeit der Stiftung Eigen-Sinn stehen auch in den Osterferien Schulsozialarbeiter für Schüler und Eltern bereit. Der Waldkindergarten unterhält eine Notgruppe für Mitarbeiter des Krankenhauses.

Streetwork über soziale Medien

Während sich der Einsatz der Streetworker während der Corona-Pandemie auf wenige Kontakte vor Ort beschränken muss und weitgehend über Telefon, soziale Medien und über die neue Homepage abgewickelt wird, sehen sich die Mitarbeiter der Stationären Jugendarbeit ständig vor der neuen Herausforderung, Kinder und Jugendliche immer wieder neu zu motivieren und sinnvoll zu beschäftigen.

In der Kinderwerkstatt Eigen-Sinn werden die Kontakte zu Kindern und Eltern weiterhin aufrechterhalten mit Postkarten und Hoffnungsbotschaften oder mit dem selbst entwickelten „Kompass der Lebensfreude“. Er regt die Kinder an, zu überlegen
wie Farben in ihr Leben, Bewegung in ihren Körper, Freuden in ihr Herz und ein Lächeln in ihr Gesicht kommt.

Mit jedem weiteren Tag Kontaktsperre wird die Situation problematischer, weiß Haist. Das Konfliktpotential in den Familien sei hoch. „Das bekommen auch unsere Mitarbeiter immer wieder zu spüren“.

Als dramatisch, auch wenn es notwendig ist, empfindet Haist es, dass die Gruppenarbeit in der Kinderwerkstatt Eigen-Sinn vorübergehend eingestellt werden musste. „Kinder, die schon vorher dringend Unterstützung und emotionale Förderung benötigten, sind jetzt noch größerer Belastung ausgesetzt. Wir fragen uns, was bleibt vom gemeinsamen Erarbeiteten, was zerbricht? Wie geht es weiter?“

Situation Geflüchtete

Zukunftsängste greifen auch bei den jungen Geflüchteten um sich. Einige stehen vor dem Abschluss ihrer Ausbildung und damit vor einem Ziel, auf das sie mehrere Jahre hingearbeitet haben. Jetzt gibt es keine schulische Vorbereitung auf die Prüfung., Sie haben Angst, keinen Arbeitsplatz zu bekommen. Es drückt die immerwährende Frage, ob sie trotz aller Anstrengungen bleiben können.