Australian Open

Mit klarem Kopf und feinem Händchen

Mischa Zverev macht gegen Andy Murray das Spiel seines Lebens. Er demonstriert brillante Angriffsvarianten und wirft die Nummer eins aus dem Turnier.

23.01.2017

Von JÖRG ALLMEROTH

Hoch konzentriert und schlaggenau: Mischa Zverev diktierte das Spiel gegen die Nummer eins. Foto: afp

Hoch konzentriert und schlaggenau: Mischa Zverev diktierte das Spiel gegen die Nummer eins. Foto: afp

Wie und wo soll man bei einer der größten Geschichten anfangen, die das moderne Profitennis in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschrieben hat? Es ist die wunderliche, lange Zeit schmerzliche und aktuell ziemlich unfassbare Geschichte des unbeugsamen Mischa Zverev, um die es hier geht. Es ist die Geschichte eines Mannes, der in jungen Jahren fast an riesigem Erwartungsdruck gescheitert wäre, bevor er wegen bitterem und hartnäckigem Verletzungspech an Rücktritt dachte. 2009 brach er sich das Handgelenk, 2010 brach er sich zwei Rippen und erlitt einen Bandscheibenvorfall, 2013 riß er sich die Patellasehne an, und 2014 wurde er sogar am Handgelenk operiert. Doch Mischa Zverev, der ältere der beiden erstaunlichen Zverev-Brüder, kam immer wieder zurück – und wie.

Als er am Sonntagabend in der Rod Laver-Arena zu Melbourne die Rückhand eines gewissen Andy Murray seitlich ins Aus fliegen sah, nach drei Stunden und 33 Minuten, da hatte er mit dem besiegelten 7:5, 5:7, 6:2, 6:4-Triumph im Achtelfinale der Australian Open gegen den Titelfavoriten und Weltranglisten-Ersten auf seine älteren Tage noch einen bisher unvergleichlichen Coup geschafft. „Es ist ein Moment, den man ewig genießen möchte“, sagte der Gewinner, der nun in der Runde der letzten Acht auf Superstar Roger Federer trifft.

Dem Bruder die Show gestohlen

Besser denn je in seiner wild bewegten, äußerst komplizierten Karriere, stahl der 29-jährige auch Bruderherz Alexander die Schlagzeilen und die Show – dieser hatte tags zuvor bei der hauchdünnen Fünf-Satz-Niederlage gegen Matador Rafael Nadal ebenfalls für Furore gesorgt, das Happy-End gegen den 14-maligen Grand Slam-Champion indes verpasst. Und doch: Die beiden Jungs von der Waterkant waren – im Kollektiv gedacht – die beiden herausragenden Darsteller der ersten Turnierwoche im heißen Melbourne, die Lieferanten von Spektakel und nun auch Sensation.

„Was für eine Familie“, sagte der langjährige Davis-Cup-Boss der USA, Patrick McEnroe. Und sein Bruder John, der ehemalige Superstar und Superflegel der Tennisplätze, ernannte Mischa, den Thronstürzer von Sir Murray, zu seinem „neuen Lieblingsspieler“: „Das ist das Tennis, was ich sehen will. Intelligent, flexibel, mit Köpfchen.“

Was Zverev, der Ältere, da in einer grandiosen Demonstration von Spielintelligenz, Offensivwucht und kühler Nervenkraft in der Rod Laver-Arena vom Schläger zauberte, war vor allem eine Reminiszenz an eine goldene stilistische Ära dieses Sports, eine Zeitreise in die 80er- und 90er-Jahre. Es war bezeichnend, dass der Prototyp des Tennis der Jetztzeit, der Grundlinien-Beherrscher Andy Murray, keine Antworten auf die stoischen Netzangriffe und die taktische Schläue des sympathischen Deutschen fand – eines Spielers, der zeigte, warum er schon immer für sein feines Händchen und seinen instinktiven Touch gerühmt wurde. „Er hat teilweise unglaubliche Bälle geholt“, sagte Murray.

Effiziente Netzattacken

„Dieses Match sollte sich jeder junge Spieler anschauen“, merkte TV-Experte Boris Becker an, „einfach, um zu sehen, dass Aufschlag und Volley wichtige Elemente des Spiels sind.“ Sage und schreibe 116 Mal preschte der krasse Außenseiter ans Netz vor, gewann 55 Prozent dieser Attacken. Aber vor allem brachte er, der Weltranglisten-Fünfzigste, den Schotten aus seiner spielerischen und auch psychologischen Wohlfühlzone – so simpel wie effektiv war das Rezept, sich nicht auf ermüdende Ballwechsel an der Grundlinie einzulassen und selbst das Diktat des Tempos und des Rhythmus an sich zu reißen.

Doch es gehörte auch ein gerüttelt Maß an Courage und emotionaler Beherrschtheit dazu, die Partie gegen den Defensiv-Weltmeister und Ausdauerkünstler Murray nach Hause zu spielen, in der aufgeladenen, elektrisierten Centre Court-Atmosphäre. „Ich war aufgeregt, aber nicht nervös“, sagte Zverev hinterher, „ich habe alle negativen Gefühle ausgeschaltet.“ Die letzten Minuten, die letzten Spiele – da wirkte es, als sei Zverev in jener berühmten „Zone“, über die Tennisspieler so gerne sprechen. Wie mit Tunnelblick versenkte sich der deutsche Comebacker da restlos in seine gewaltige Prüfung – und bestand sie mit summa cum laude, mit dem Höchstpreis, mit dem Rausschmiß des Frontmannes.

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Erstellt:
23.01.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 01sec
zuletzt aktualisiert: 23.01.2017, 06:00 Uhr

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