Vesperkirche

Mittagessen mit einem Känguru

Eine Mahlzeit mit besonderem Gschmäckle.

30.01.2017

Von Nina Kwiatkowski

Zu Kartoffelsuppe mit Graupen kamen am Samstag zirka 150 Gäste in die Tübinger Vesperkirche.Bild: Faden

Zu Kartoffelsuppe mit Graupen kamen am Samstag zirka 150 Gäste in die Tübinger Vesperkirche.Bild: Faden

Matilda ist ein stummer Gast. Sie sitzt am Kindertisch in der Spielecke und guckt den Kindern zu. Hunger hat sie keinen. Und für Kuchen hat sie auch nicht viel übrig. Trotzdem ist sie Stammgast in der Vesperkirche, jeder kennt sie. Matilda ist ein Plüsch-Känguru und ständige Begleiterin von Klaus Rahlfs, Helfer und Gast seit der ersten Vesperkirchen-Stunde. „Die Vesperkirche ist für alle da“, sagt er – auch für Plüsch-Kängurus. Irgendwie schräg, aber irgendwie auch ein Symbol für das, was ein Mittagessen hier ausmacht.

Unter der holzvertäfelten Kirchenkuppel mischen sich an den lose im Raum verteilten Tischen Studenten-Pärchen, volltätowierte Rockertypen, deutsche und ausländische Familien, zahnlose Vagabunden, alte Menschen, junge Menschen, Hausfrauen, Punker, Professoren, Journalisten – ein kunterbunter Haufen, der sich an diesem Tag Kartoffel- oder Graupensuppe schmecken lässt.

Uwe aus Sankt Johann zum Beispiel. So viele Haare wie er auf dem Kopf und im Gesicht hat, so wenig Zähne hat er im Mund. Mit leiser Stimme schimpft er auf die Politik, auf die Kirche, auf alle Institutionen. „Was ich als Kind mitgemacht habe, kann man nicht beschreiben“, murmelt er zwischendurch. Dann verstummt er.

Ganz anders Gisela. Sie ist hier buchstäblich bekannt wie ein bunter Hund. Heute trägt sie von oben bis unten pink, quatscht sich munter durch sämtliche Grüppchen, lacht ein unverfälschtes, lautes Lachen. Die Rentnerin hat früher im Sozialamt gearbeitet, in der Vesperkirche ist sie regelmäßiger Gast, wahrscheinlich vor allem einfach zum Reden. „Ich hab‘ so viel zu erzählen, ich könnte ein Buch schreiben“, sagt sie. Von ihrer Zeit auf Korsika zum Beispiel, wohin sie sich aus Liebeskummer drei Jahre flüchtete. Oder von ihrer Arbeit auf einem Biobauernhof. Es braucht sicher viele Mittagessen, um all ihre Geschichten zu hören.

Dann das das junge Paar am Nachbartisch, das einfach nur zum Essen herkommt. „Wir sind oft hier“, sagen beide, essen schnell ihre Suppe, dann Nachtisch, Kaffee, Kuchen und schon sind sie wieder weg. Die meisten aber bleiben lange sitzen, reden, murmeln, lachen oder gucken einfach. Dazwischen wuseln die fleißigen Vesperkirchen-Kellner und –Kellnerinnen in ihren weißen Schürzen, tragen volle Teller zu den Tischen und holen leere wieder ab.

„Jeder wird mit höflichem Respekt bedient, alle werden gleich behandelt“, sagt Klaus Rahlfs. Ein Gefühl, das viele sonst nie erfahren – und deshalb umso mehr schätzen. „Wenn draußen jemand seine Kippe wegschnipst, bekommt er von den anderen eins auf den Deckel“, erzählt Rahlfs. Wenn der Frührentner nicht gerade selbst Vesperkirchen-Dienst hat, kommt er trotzdem her – jeden Tag, in jedem Jahr. Weil er an „seinem Tisch“ mit Menschen zusammen sitzt, die ihm im Laufe der Jahre zu Vertrauten wurden. Weil Junkies mit Tränen in den Augen ihren Griesbrei essen, weil diese Mahlzeit Kindheitserinnerungen weckt. Weil er hier nie allein sitzt.

Das muss hier keiner – auch Matilda nicht mehr. Wolfgang Wettlaufer, Biologe auf der Sternwarte hat ihr ein kleines Baby-Känguru mitgebracht. Der ganze Tisch betrachtet bedächtig das neue Paar. Irgendwie schräg.
Aber halt auch genau das, was
ein Besuch in der Vesperkirche ausmacht.

Infos zur Tübinger Vesperkirche

Seit acht Jahren gibt es die Tübinger Vesperkirche in der Martinskirche. Sie ist noch bis 18. Februar geöffnet: Täglich von 11:30 bis 14:30 Uhr . Jeden Tag gibt es von 11:45 bis 14 Uhr eine warme Mahlzeit, Nachtisch und Getränke, zum selbst gebackenen Kuchen gibt es Kaffee. Das Essen kommt vom Pauline-Krone-Heim, jeder zahlt dafür das, was er kann. Heute gibt es für Interessierte eine offene Gesprächsrunde, montags und mittwochs kommen die Frisöre, jeden Dienstag ist Arzt-Sprechstunde und donnerstags ist Fußpflege. Arme und reiche, junge und alte Menschen sind willkommen.