Horb · Nachruf

Modernisierer der NECKAR-CHRONIK

Zum Tod des Journalisten und ehemaligen Redaktionsleiters Michael „Mike“ Zerhusen.

17.11.2022

Von Johannes Klomfaß

Fleißig sein und kreativ: Michael Zerhusen. Bild: Karl-Heinz Kuball

Fleißig sein und kreativ: Michael Zerhusen. Bild: Karl-Heinz Kuball

Es war einmal eine kleine Zeitung in einer gernegroßen Stadt. Es war einmal ein kleiner großer Mann, der hieß Mike Zerhusen. Er machte aus dem bieder-betulichen Chronistenblatt NECKAR-CHRONIK ein Lokalblatt mit Anspruch und Niveau. Das liegt sagenhafte 43 Jahre zurück. Zwei Generationen, vier Redaktionsleiter und eine -leiterin passen in diesen Zeitraum. 1979, das war zu einer Zeit, als man Texte mit
Namenskürzeln versah: mz folgte damals – die ganz Alten unter uns erinnern sich – auf fk, Fridolin Knöpfle, vulgo: Willy Munz. Die Moderne erreichte nun
auch Horb.

Sogar der Name änderte sich: Von NECKAR-CHRONIK zu SÜDWEST PRESSE. Das klang gleich weniger provinziell. In Horb wussten sie, was für einem sie die Leitung anvertrauten. Zwei Jahre zuvor hatte er in Gomaringen den Kanzelvortrag einer konservativen Agitatorin zerpflückt, die noch gegen Ende
der Siebziger die Frau zurück in die Kinder-Küche-Kirche-Rolle zwingen wollte. Ergebnis: 50 Abonnentinnen und Abonnenten bestellten die Zeitung ab.

Typisch für ihn, dass er nicht einfach so zum neuen Job kam. Die Redaktion weigerte sich,
mit dem von Munz auserkorenen Nachfolger, einem Herrn B. aus Talheim, zusammenzuarbeiten. Geschlossen fuhr man nach Tübingen und ließ den Verleger wissen: Der Zerhusen muss es machen!

Ab sofort gab es Meinungsjournalismus, eine tägliche
Kommentarspalte und die Pop-Kolumne Paula Pank. Eine Seite
3 für Hintergrundgeschichten. Frauenthemen. Als Tschernobyl in die Luft flog, zeigte die Redaktion, was sie drauf hatte, und ließ mit engagiert hinterfragendem und aufklärerischem Journalismus die Konkurrenz aus Oberndorf aussehen wie ein Verkündblatt.

Michael „Mike“ Zerhusen war einer, der wirbeln konnte. Einer, der, je nach Anlass, seriös oder albern war. Er sah sich fraglos als Linker, war aber ein gerüttelt Maß bürgerlich. Er fuhr BMW und sympathisierte 1990 offen mit Gysis PDS. Als 1986 RAF-Terroristen den Diplomaten von Braunmühl ermordeten und in der Redaktion eine Kollegin klammheimliche Freude darüber äußerte, war er entsetzt und erteilte ihr einen scharfen Verweis.

Mike führte Redaktionsgespräche ein, empfing in Anzug und Krawatte, was untypisch ist im oft schluffigen Lokaljournalismus. Manch ein Lokalchef tut servil und buckelt, wenn der Herr Abgeordnete Bundesprominenz anschleppt. Zerhusen hatte dafür nur Spott übrig. Selten war er schroff. Kritik trug er mit feiner Ironie und in sanft raunender Stimmlage vor, sprach dann lieber von einem „merkwürdigen Herrn“ als von einem Idioten.

Extrovertierter Sprecher

Journalist war er noch mehr mit dem Mund als mit dem, was er schrieb. Unter den vielen introvertierten Schreibern war er der Extrovertierte, erst der Redaktionssprecher, später der Unternehmenssprecher der Fischerwerke. Im Namen der Zeitung moderierte er Veranstaltungen, was auch nicht jeder kann. Später, an der Fasnet, den Eröffnungsball. Ob das immer lustig war? Nun ja, zumindest half er, das Niveau zu heben.

Intellektuellenbrille auf der Nase, sich nachdenklich am Bart kratzend, so sehen wir ihn in der Redaktionskonferenz sitzen. Er war ein guter Chef und Mentor, einer, der einen formen konnte und es verstand, subtil zu fördern, zu ermutigen, zu ertüchtigen. Ach, Mike, wärst du damals geblieben, wer weiß, was noch gegangen wäre in Horb.

So aber ging er in die Wirtschaft, damals, 1991, nach dem großen Schnitt, als die Zeitung für einen kurzen Moment vor dem Verkauf stand. Er wurde Pressesprecher der Fischerwerke, bewährte sich neun Jahre, stieg zum Prokuristen und persönlichen Referenten von Klaus Fischer auf, leitete die interne Kommunikation. Doch der Geldjob beim Dübelmann füllte ihn nicht aus. Er nahm sich sechs Monate Auszeit, heuerte beim Caritasverband in Stuttgart an und wandte sich nach einer Probezeit mit Grausen wieder ab – der Strukturkonservatismus im Sozialverband ließ einen wie ihn auflaufen. Fischer indes ließ ihm freie Hand, und bei der NC wusste er stets einen Verleger hinter sich, den man für dessen Rückgrat bis heute nur loben kann.

In Erinnerung bleibt sein ehrenamtliches Engagement: Kloster! Künstlerhaus! In Erinnerung bleiben Gesten, Phrasen („gemach, gemach!“), seine Grundfröhlichkeit, und dass er, wie Gattin Lisbeth sagt, „auch mal den Rauch neilassen konnte“.

Im Kopf, im Herzen, im Ranzen echot bis heute ein Wochenende beim Kollegen Sebastian in Köln nach; eine durchzechte Maiennacht in Dettingen mit Whisky zum Frühstück. Die gruppendynamischen Treffen mit ihm als unserem Anführer liefen meist aus dem Ruder, aber sie stärkten die Truppe, wir schätzten, wir mochten einander. Betriebsfamilie halt, wie das so war, damals, Ende der Achtziger.

Später, ohne Mike, sollte es freudloser und auch puritanischer zugehen. Das Trinken machte irgendwann keinen
Spaß mehr.

Kurzum: Mike hat eine Ära geprägt, das heißt auch: Er hat es verstanden, Kollegen Lust am Zeitungmachen zu machen. In den Achtzigern sind viele weg, nach Berlin. Und ebenso viele sind geblieben, haben die Provinz gewählt: Susan aus Brooklyn, Gabriela aus Stuttgart, Susanne aus Dortmund, Willy aus Friedrichshafen. Mike hat den bunten Haufen angeführt. Mit Haltung. Er war politisch. Streit- und rauflustig. Wenn die FDP ihm vorwarf, er sei FDP-Hasser, hatten sie damit vollkommen recht.

„Fleißig sein und kreativ“, das charakterisierte ihn ganz gut, das hat er in einem Silvesterinterview 2002 gesagt. „Jeder soll an seinem Platz etwas unternehmen und bewegen, in dem Sinne, dass er sich verantwortlich fühlt und seine Ideen einsetzt, anstatt darauf zu warten, dass alles vom Himmel fällt.“

„Des schreib’sch net!“

Und, wie war er privat? Komische Frage, alles war damals öffentlich. Aber jetzt sehe ich Mike, wie er sich am Bart kratzt und Anstalten macht, mich am Ohr zu zupfen. „Des schreib’sch net!“ – Genau, Chef, es muss nicht alles in die Zeitung. Die Deutungsmacht obliegt uns, dafür hasst ihr uns, nicht wahr, wir bestimmen. Der Verleger sitzt in Tübingen und nicht im Rathaus in Horb oder sonstwo, mag er mit Abbestellung drohen. Liest er uns künftig halt heimlich.

Was fehlt? Ein paar Lebensdaten: geboren 1951 in Ulm, als Sohn einer geschiedenen Antiquariatshändlerin; Abitur im evangelischen Internat Schöntal und Urach; schrieb als Seminarist für den Ermstalboten; Studium Deutsch/Geschichte in Tübingen abgebrochen; lieber schrieb er fürs Tagblatt; 1974 Heirat mit Lisbeth Nau; Volontariat in Tübingen und Ulm. Stationen als Redakteur: Mössingen, Freudenstadt, Horb.

Gestorben im Alter von 70 Jahren an einem Leiden, das dir den Atem nimmt, am 13. November, dem Todestag von Ludwig Uhland („.Lass deine Taten sein wie deine Worte. Und deine Worte wie dein Herz“).

Was fehlt? Die Anekdote, Mike, vom Volontär Dr. Peter Gurk, der solch ein Gurkenpeter war, dass er zum geflügelten Wort wurde – die musst du uns noch einmal erzählen, für den Fall, dass wir alle in die Hölle kommen sollten und dazu verdammt wären, auf ewig Redaktionskonferenz nachzuspielen.

Bis auf Weiteres sind wir
traurig und schieben den Blues, reden uns die Köpfe heiß und
lächeln uns eins, wenn wir an dich denken. Alles Gute fürs weitere Leben!, hören wir dich noch einmal rufen. Und verdrücken eine Träne.

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Erstellt:
17.11.2022, 18:33 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 31sec
zuletzt aktualisiert: 17.11.2022, 18:33 Uhr

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