Interkulturelles Singen

Musik als Grundbedürfnis, Weltsprache und Heimat

Am vierten Adventssonntag trafen in der Glashalle des Tübinger Landratsamtes zwei außergewöhnliche, interkulturelle Musik-Projekte aufeinander: Fugato und Trimum.

20.12.2016

Von Simone Werner

Die elfjährige Tina aus Afghanistan und eine deutsche Choristin, rechts einige der orientalischen Langhalsinstrumente.Bild: Werner

Die elfjährige Tina aus Afghanistan und eine deutsche Choristin, rechts einige der orientalischen Langhalsinstrumente.Bild: Werner

Wie klingt es, wenn Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen Musik machen? Menschen, die bei uns Zuflucht vor Terror und Krieg suchen. Und wie können wir ihnen durch Musik dabei helfen, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen? Diese Fragen versucht die Württembergische Philharmonie Reutlingen seit Anfang 2016 mit ihrem Projekt „Fugato“ zu beantworten, bei dem Geflüchtete aus Reutlingen, Tübingen und Esslingen mitwirken.

Ein anderer Aspekt, nämlich der des Glaubens, steht beim europaweit einmaligen Projekt „Trimum“ im Zentrum. Seit 2012 begegnen sich dabei Juden, Christen und Muslime, die gleichzeitig Musiker, Theologen oder Wissenschaftler sind.

Am Sonntag trafen die beiden Projekte im Rahmen eines interkulturellen Advents-Singens und Werkstattkonzerts im Foyer des Landratsamts in Tübingen zum ersten Mal aufeinander. Das gut besuchte Konzert war der Beweis dafür, dass es sehr gut möglich ist, eine gemeinsame musikalische Sprache zu finden und beispielsweise persische, türkische oder hebräische Gesänge mit deutschen Advents- und Weihnachtsliedern zu kombinieren. Darüber hinaus boten Jugendliche aus Afghanistan und Gambia sowie ein türkischer Chor aus Esslingen und ein jüdischer Kantor aus Berlin Stücke und Gedichte dar. Instrumental begleitet von unter anderem Tanbur und Sitar (Langhalslauten), Harmonium und Tabla (Trommeln).

Themen waren: Flucht, Fremdheitsgefühle, Ängste, Hoffnung, Heimweh, Menschlichkeit, Liebe und das bevorstehende Weihnachtsfest. Angelehnt an das deutsche Volkslied „Die Gedanken sind frei“ beispielsweise wurden verschiedene Gedichte und Lieder zu einer persisch-deutschen Collage arrangiert. In den Texten kommt das Motiv eines Vogels vor, der im Käfig eingesperrt ist, wegfliegt, in Gefahr gerät und erneut eingesperrt wird.

Auch das dargebotene Stück „Ihr möchtet bleiben“ hat gerade in den vergangenen Wochen wieder sehr an Aktualität gewonnen. Es entstand anlässlich einer Demonstration gegen das EU-Abschiebe-Abkommen mit Afghanistan und handelt vom „neuen Nachbarn“, Unterdrückung und Terror. Eine weitere Besonderheit am vergangenen Adventssonntag war der Vortrag des Gedichts „Wir sind alle Menschen“ der 11-jährigen Tina, der ebenfalls musikalisch untermalt wurde. „Ich bin eine Afghanin, die Schlimmes sah. Kann nicht einen Schritt tun, um frei durchzuatmen, während Explosionen und Bomben unsre Herzen in die Luft jagen“, heißt es darin übersetzt. „Gerade für Geflüchtete hat Musizieren oft eine ganz besondere Bedeutung“, erklärt Projektleiterin Gerlinde Dippon. Es sei ein menschliches Grundbedürfnis, Musik in Tinas Land jedoch leider teilweise verboten. So sei es nicht schwer gewesen, im Frühjahr 2016 zahlreiche vor allem unbegleitete minderjährige Geflüchtete für das Fugato-Projekt zu begeistern. „Die Jugendlichen bringen sehr viele Ideen und selbstgeschriebene Texte mit oder zeigen uns auf ihren Smartphones, was sie gerne singen würden“, so Dippon. Bei den afghanischen Jungs seien das komischerweise vor allem Liebeslieder. „Wir würden bei manchen fast schon sagen, dass sie schmalzig sind“, so die 38-Jährige schmunzelnd.

Rund 60 Geflüchtete sind Teil des Fugato-Projekts, das am 29. Juni mit einem großen Konzert in der Reutlinger Stadthalle erst einmal zu Ende geht. Bei den ersten Treffen sei vor allem die Sprachbarriere eine Herausforderung gewesen, weswegen mit Dolmetschern gearbeitet wurde.

Beim Partnerprojekt Trimum liege die Schwierigkeit insbesondere darin, Texte zu finden, die für alle drei Religionen vertretbar sind. „Menschen, die unterschiedlichen Religionen angehören, können zwar gemeinsam singen, doch eben nur bis zu einer gewissen Grenze. So kann ein Jude zum Beispiel natürlich kein Lied einüben, in dem es um Jesus geht“, erklärt Alon Wallach, Leiter des Fugato-Ensembles.

Beendet wurde das eineinhalbstündige Konzert, zu dessen zweiten inoffiziellen Teil es unter anderem aufgrund einer Parallelveranstaltung nicht mehr kam, mit einer Darbietung des bekannten „Halleluja“-Stücks von Leonard Cohen. Daraufhin brach tosender Applaus aus, viele Gäste erhoben sich.