Hotspot der Artenvielfalt

Naturschützer warnen eindringlich vor einer Bebauung des Tübinger Steinenbergs

Der Steinenberg ist bedroht, wenn sich die Unikliniken am Berg weiter ausbreiten sollten, sagen Kritiker. Welche Folgen eine Bebauung des Gebiets hätte, erläuterten die Naturschützer Armin Straub und Martin Engelhardt am Sonntag bei einer naturkundlichen Führung.

19.04.2016

Von Philipp Koebnik

Martin Engelhardt (mit Sonnenbrille) und Armin Straub (rechts daneben) kämpfen für den Schutz seltener Tier- und Pflanzenarten am Steinenberg. Bilder: Koebnik

Martin Engelhardt (mit Sonnenbrille) und Armin Straub (rechts daneben) kämpfen für den Schutz seltener Tier- und Pflanzenarten am Steinenberg. Bilder: Koebnik

Tübingen. Der Himmel ist leicht bewölkt, der Boden feucht vom Regen des Vormittags. Doch während des Spaziergangs bleiben die Wolken dicht. Die Naturschützer Armin Straub und Martin Engelhardt führten am Sonntag 25 Interessierte über den Steinenberg. Beide sind aktiv in der Interessengemeinschaft Steinenberg, die eine Bebauung des Gebiets verhindern will.

„Ich interessiere mich sowohl für Tübingen, als auch für Naturschutz“, sagt Monica Theurer, eine der Teilnehmerinnen. „Toll, hier von Leuten mit Sachverstand lernen zu können.“ Zum Beispiel, dass auf dem Steinenberg rund 35 Schmetterlingsarten und 85 Wildbienenarten beheimatet sind, darunter Dutzende, die auf der Roten Liste stehen. „Das findet man in Tübingen sonst kaum noch“, so der Landschaftsgärtner Straub. „Es ist ein Hotspot der Artenvielfalt.“ Auch seltene Vögel wie der Wendehals und viele Spechte leben hier. Die Besucher erfahren außerdem, dass Bäume 70 oder 80 Jahre alt werden müssen, bis sie eine Höhle ausbilden, die Fledermäusen oder Vögeln als Nistplatz dienen. Älter seien die Bäume hier ohnehin nicht, weshalb sie umso mehr geschützt werden müssten.

Alsbald wurde auch über Politik diskutiert. „Hier sehen Sie, wie das Gebiet in den vergangenen Jahrzehnten zugebaut wurde“, sagt Straub und zeigt auf zwei Tübinger Stadtpläne: einen von 1957 und einen aktuellen. Vor 60 Jahren waren der Steinenberg und der Schnarrenberg noch fast unbebaut. „Vor allem wegen seiner sonnigen Südhänge ist der Berg für uns Naturschützer sozusagen das Tafelsilber“, sagt Engelhardt, der als freiberuflicher Botaniker arbeitet und den Steinenberg seit Jahrzehnten kennt. Er zitiert den Tübinger Geologen Friedrich August Quenstedt, der 1864 geschrieben hatte, dass der obere und untere Schnarrenberg zu den „gesegnetsten“ Obstanbaugebieten gehörten.

Früher wurde auf dem Steinenberg auch Wein angebaut, doch damit war es spätestens nach dem Ersten Weltkrieg vorbei. Seither wachsen hier nurmehr Obstbäume, darunter alte Sorten wie die Dattelzwetschge, die gelbe Frühzwetschge, die Feigenbirne und die Gässlesbirne. Auch Straub und Engelhardt bewirtschaften hier kleine Gärten, stellen Birnensaft und -brände her. „Schauen Sie sich um, und ich frage Sie nachher, welche Bäume Sie gesehen haben“, ruft Engelhardt die Leute zum Mitmachen auf. Ganz so einfach ist das nicht, die teilweise noch recht kahlen Bäume voneinander zu unterscheiden. Doch die Experten wissen Rat: „Die Knospen von Apfelbäumen sind behaart, die von Birnbäumen unbehaart und zudem spitzer“, erklärt Engelhardt. Ein weiteres Merkmal ist die Borke. Bei Apfelbäumen ist sie längsrissig, bei Birnbäumen längs- und querrissig.

Vorbei geht es am neuen Parkhaus bei der Augenklinik. „Ergibt es Sinn, ein Parkhaus am Rand zu bauen?“, so Straubs rhetorische Frage. „Ich vermute eher, dass das eine neue Mitte werden soll.“ Die beiden Umweltschützer befürchten, dass das Klinikum künftig weiter in die Natur ausgreifen werde. „Der Steinenberg gehört zu 99 Prozent dem Land“, sagt Engelhardt. Seit Jahrzehnten ist er als „Sondernutzungsgebiet Kliniken“ der Universität im Flächennutzungsplan ausgewiesen. Dieser wird Ende des Jahres fortgeschrieben.

„Wir haben nur noch wenige Restflächen wie diese“, betont Engelhardt. Sie dienten auch als Naherholungsgebiete. Die Naturschützer fordern deshalb, den Steinenberg aus dem Flächennutzungsplan herauszunehmen. Anschließend solle er als Naturschutzgebiet ausgewiesen werden, um dauerhaft geschützt zu sein. „Streuobstwiesen sollten generell, wie in anderen Bundesländern auch, unter Naturschutz gestellt werden“, fordert Engelhardt. Viel zu oft fielen solche wertvollen Gebiete dem Flächenfraß zum Opfer. „Dabei sind die Zeiten vorbei, wo man einfach in die Fläche baute, koste es, was es wolle.“ Auch die Natur brauche schließlich Flächen.

Grundsätzlich handelten Boris Palmer und die Stadt richtig, indem sie Flächen sparen wollten, sagen beide. Aber momentan verhalte sich die Stadt defensiv. Eine Kommission aus Uniklinikum, Unibauamt und Gemeinderat bespricht derzeit die weitere Entwicklung am Steinenberg. „Völlig undemokratisch wird jetzt hinter verschlossenen Türen verhandelt“, kritisiert Engelhardt. Die Teilnehmer sind empört, von „Mauscheleien“ und „Geheimniskrämerei“ ist die Rede. Viele wollen wissen, was man gegen eine Bebauung tun könne. „Die Leute müssen jetzt Druck machen, nicht in ein paar Jahren“, rät Engelhardt.

Das Klinikum wolle ein schönes Ensemble haben, doch das stehe im Widerspruch zu der Absicht, Flächen einzusparen. „Es wäre ein Verbrechen, hier zu bauen“, betont Engelhardt. Als Alternativen schlagen die Naturschützer die Maderhalde (gegenüber der BG-Klinik) und die Sarchhalde (entlang der Schnarrenbergstraße) vor. „Nicht, dass eine Bebauung dort keine negativen Folgen hätte, aber der Schaden wäre zumindest nicht ganz so gravierend“, so Engelhardt. Die Grünen redeten immerhin von einer Politik des Gehörtwerdens. „Wir haben einen grünen OB – ich hoffe also, dass die Bevölkerung nicht erst gehört wird, wenn es entschieden ist.“

Zum Schluss gibt es für die Spaziergänger noch etwas Besonderes zu sehen: einige Wildtulpen. „Lange Zeit wusste man gar nicht, dass es die hier gibt“, sagt Engelhardt. Auch in den kommenden Wochen soll es Führungen über den Steinenberg geben.

Eine gelbe Besonderheit: die Wildtulpe

Eine gelbe Besonderheit: die Wildtulpe