Nebel im August

Nebel im August

Authentische Geschichte einen Jugendlichen, der 1942 ins Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten gerät.

01.06.2017

Von Klaus-Peter Eichele

Nebel im August

Mehr als 200 000 Menschen wurden im Zeichen der Euthanasie von den Nationalsozialisten ermordet: geistig Behinderte, psychisch Kranke, aber auch, was weniger bekannt ist, Kinder und Jugendliche, denen der Stempel „asozialer Schädling“ aufgedrückt wurde. Einer davon war Ernst Lossa, dessen Geschichte der Film in leicht fiktionalisierter Form erzählt. 1943 wird der 13-Jährige in die Nervenklinik Irsee bei Kaufbeuren eingewiesen. Sein Vergehen: kleine Diebstähle. Schwerer wog wohl, dass er ein Jedischer war. Die Angehörigen dieser Gruppe, die vor allem als fahrende Händler ihren Lebensunterhalt verdienten, standen auf der Ausrottungsliste der Nazis.

In Irsee angekommen, merkt der Junge schnell, dass dort nicht geheilt, sondern selektiert wird. Wer bei Kräften ist, kommt vorerst mit Sklavenarbeit davon. Die übrigen werden in den Tod deportiert. Gemordet wird zentral in speziellen Einrichtungen wie Hadamar; nach Protesten der Bevölkerung bekommen die einzelnen Anstalten selbst die Lizenz zum Töten: geräuschlos durch mit Himbeersaft versüßtes Gift oder durch Nahrungsentzug.

Weil Lossas einziges Handicap seine große Klappe ist, entgeht er zunächst diesem Schicksal. Zu den „Deppen“, wie er die geistig Behinderten nennt, hält er erst mal Distanz. Doch nachdem der Junge das mörderische System durchschaut hat, unternimmt er alles, was in seiner Macht steht, zumindest einige der Todgeweihten zu beschützen. Lossas Antipode ist der (fiktive) Anstaltsarzt Veithausen (Sebastian Koch). Der Mediziner ist kein Brutal-Nazi, zuweilen geriert er sich sogar als väterlicher Freund. Tatsächlich ist er aber hundertprozentig davon überzeugt, dass alles Schwache, das der Gesellschaft bloß Kosten verursacht, ausgemerzt werden muss. Dass dabei meistens von „Erlösung“ die Rede ist, schlägt einen Bogen zur modernen Sterbehilfe-Debatte.

Regisseur Kai Wessel („Hilde“) entgeht der Gefahr, die Geschichte (melo-)dramatisch aufzubauschen. Seine unter die Haut gehende Wirkung bezieht der Film durch die Nüchternheit, mit der er den Alltag des Amoralischen vor Augen führt. In kluger Verdichtung bietet er auch einen guten Überblick auf das Euthanasie-Programm der Nazis, seine verschiedenen Phasen, weltanschaulichen Grundlagen und Praktiken. Ohne deswegen hölzern zu wirken, repräsentieren viele Figuren bestimmte Teile der deutschen Bevölkerung im Nationalsozialismus: die Rassenideologen, die Autoritätshörigen, die Skrupulösen und die Gleichgültigen. Vor allem aber setzt „Nebel im August“ der Humanität der Opfer ein Denkmal – auch, aber nicht nur in Person des vom zwölfjährigen Ivo Pietzcker eindringlichst gespielten Ernst Lossa.

Ein Junge gerät ins Räderwerk der Nazi-Euthanasie. Intensiv und authentisch.

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Erstellt:
01.06.2017, 10:24 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 13sec
zuletzt aktualisiert: 01.06.2017, 10:24 Uhr

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Elli Emann 06.10.201615:40 Uhr

Der Film wirkt durch seine lakonische Erzählweise besonders eindringlich. Alles nimmt seinen scheinbar normalen Gang, die große Empörung wird nicht inszeniert.

Widerstand ist im Kleinen zu spüren, etwa bei der Krankenschwester Sophia, die ihrem Vorgesetzten, einem Bischof, offenbart, dass im Kinderheim systematisch getötet wird. Der Vorgesetzte windet sich, bezieht keine Stellung, will sich nicht aus dem Fenster lehnen.

So versucht die Krankenschwester zusammen mit Ernst Lossa zu retten was zu retten ist. Beide scheitern letztendlich genauso wie die Widerständler mit den großen Namen....