Im Land der tausend Blätter

Neuer Tübinger Verein übernimmt Patenschaften für Studierende aus Nahost

An der Universität in Damaskus studierte sie die Weltreligionen. Doch seit dem Kriegsausbruch in Syrien gibt‘s für Shadia Trrak und ihre Kommilitonen nur einen eingeschränkten Lehrbetrieb. Jetzt kann sie dank des neu gegründeten Tübinger Vereins „Studentenpaten Nahost“ in Tübingen weiterstudieren – ganz legal mit Visum.

12.08.2016

Von Christiane Hoyer

Shadia Trrak studiert seit Anfang August erst mal die deutsche Sprache und wohnt in Waldhausen. Bild: Sommer

Shadia Trrak studiert seit Anfang August erst mal die deutsche Sprache und wohnt in Waldhausen. Bild: Sommer

Tübingen. Eigentlich hätte Shadia Trrak schon im Sommersemester mit dem Studium in Tübingen beginnen können. Doch bis die Deutsche Botschaft in Beirut das Visum für die palästinensische Syrerin ausstellte, verging ein halbes Jahr. Immer wieder musste ein zusätzliches Dokument beschafft werden, berichtet Sigrun Gehrig vom Verein Studentenpaten Nahost. So benötigte die Botschaft außer den üblichen Formularen den Zulassungsbescheid der Uni Tübingen, die Bestätigung, dass sie hier den Sprachkurs XY besucht und eine feste Wohnadresse hat, ein „Motivationsschreiben“, warum sie hier studieren möchte – und: ein Sperrkonto.

Ein Sperrkonto in

Nordrhein-Westfalen

Was ein Sperrkonto ist, erfuhr Gehrig erst nach vielen Anrufen bei diversen Geldinstituten. Ein Sperrkonto muss der Syrerin den Lebensunterhalt für ein volles Jahr sichern und 8000 Euro aufweisen. Nur: Nirgendwo in Baden-Württemberg gibt‘s eine Bank, die das macht, berichtet Gehrig. Schließlich wurde sie bei einer Sparkasse in Nordrhein- Westfalen fündig, die dieses Konto für Trrak einrichtete. Das Geld dafür kam über private Spenden zusammen, berichtet Gehrig. Zu Trraks ersten Eindrücken von Deutschland, als sie sich für das Studium in Tübingen bewarb, gehörte daher: Es ist ein „Land der tausend Blätter“.

Im palästinensischen Camp Yarmouk, in dem Trrak selber jahrelang lebte, sehen die Auflagen und Verbote anders aus: So ist es derzeit verboten, Nahrungsmittel in dieses Stadtviertel von Damaskus zu bringen. Hier unterstützte Trrak die Selbstversorgung der Flüchtlinge mit „Urban gardening“. Als Sozialarbeiterin hat sich Trrak zehn Jahre lang um palästinensische Flüchtlinge gekümmert, vor allem um alleinerziehende Mütter und deren Kinder. Sie betreute für die politisch unabhängige Organisation „Bassma“ Familien und Waisenkinder, kümmerte sich um Geflüchtete aus dem Irak für die Organisation „Ithar“. 13 Jahre, berichtet Trrak, hat sie selbst im Lager von Yarmouk gelebt. Es ist seit Ende 2012 unter Belagerung, einige ihrer sechs noch lebenden Geschwister hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Ihr Bruder Ahmad kam 2013 durch einen Scharfschützen des syrischen Regimes ums Leben. Eine ihrer Schwestern wurde von einem Bombensplitter getroffen und ist auf einem Auge erblindet, vor kurzem verlor diese – Mutter von drei kleinen Kindern – ihren Mann.

Shadia Trrak erfuhr über eine Deutsch-Libanesin, die für den Berliner Verein “Flüchtlingspaten Syrien“ arbeitet, von dem neuen Patenprojekt in Tübingen. Sie ist die erste Studierende, die mit Hilfe des Tübinger Vereins hier eine Chance bekommt. Er gründete sich im November 2015 – nach dem Vorbild des Berliner Vereins und ist seit März 2016 ein eingetragener Verein. „Wir möchten Studierenden aus dem Nahen Osten eine Perspektive geben“, sagt Gehrig. Sie sollen hier in Tübingen die Möglichkeit bekommen, einen Studienabschluss zu machen und in ihrem Heimatland „beim Wiederaufbau helfen können“. Auswahlkriterium für die Vermittlung, so Gehrig, seien nicht allein die guten Noten. Gefördert würde das Engagement und „der Charakter dahinter“. So soll noch in diesem Sommer eine zweite palästinensische Studierende aus Damaskus kommen, die ein Theaterstück geschrieben hat, das in Beirut aufgeführt wurde.

Shadia Trrak besucht jetzt in den Semesterferien Deutschsprachkurse. Weil sie bei Sigrun Gehrig wohnt, lernt die 31-Jährige schnell die deutsche Sprache, auch wenn Haushund Jack nicht hören will. Vieles ist für die Syrerin noch neu. Als sie am 31. Juli in Frankfurt vom Flughafen abgeholt wurde, fragte sie auf der Fahrt gen Tübingen immer wieder: „Wo sind hier denn die Häuser? Hier gibt es ja überall Bäume!“ Verwundert ist sie auch darüber, dass es hier Frauen gibt, die am Steuer der großen Stadtbusse sitzen – in Damaskus unvorstellbar, sagt sie. Auch an der Universität dort gebe es fast keine Professorinnen. Sie freut sich, dass sie hier in Tübingen Sprache, Geschichte und Archäologie des Nahen Ostens studieren kann und sagt: „Ich will jemand sein und eine Perspektive haben, in Damaskus habe ich keine.“

Perspektiven finanzieller Art braucht der junge Tübinger Verein, um mehr Patenschaften ermöglichen zu können. Neue Mitglieder, so Gehrig, sind willkommen. Spenden ebenfalls.

Der Tübinger Verein „Studentenpaten Nahost“

Gründung im November 2015, 10 Mitglieder, Vorstand: Prof. Jochen von Bernstorff, Ursula Konnertz, Sigrun Gehrig.

Vereinsziel: Förderung junger Bürgerkriegsflüchtlinge, Unterstützung bei Aufnahme oder Abschluss eines Studiums, bei Forschungsaufenthalten und wissenschaftlichen Arbeiten. Der Verein sorgt für die legale Einreise nach Deutschland und hilft, die Unterlagen für ein Visum zusammenzustellen (www.studentenpaten.de).

Finanzierung: Der Verein ist auf Spenden angewiesen, da er den kompletten Aufenthalt der Studierenden bezahlt, Konto: E52 64150020 0002 717535; BIC: SOLADES1TUB; Stichwort: Studentenpaten Flüchtlinge Nahost e.V.

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Erstellt:
12.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 16sec
zuletzt aktualisiert: 12.08.2016, 01:00 Uhr

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