Was passiert vor einer Organspende? Bundesweite Richtlinien regeln das Prozedere für die Ärzte – auch in Tübingen

„Noch nie wurden bei Zweifeln am Hirntod Organe entnommen“

Wie sicher ist die Hirntod-Diagnostik? Der Fall einer abgebrochenen Organentnahme an einer Bremer Klinik sorgt derzeit für Schlagzeilen und Verunsicherung. Wir sprachen darüber mit dem Transplantationsbeauftragten des Tübinger Uni-Klinikums, Dr. Peter Petersen, und dem Neurologen und Leitenden Oberarzt Dr. Sven Poli.

14.01.2015

Tübingen. Die Berichte über den Fall in einem Bremer Krankenhaus wecken in vielen Lesern Urängste: Da wird die Organentnahme bei einem Patienten abgebrochen, weil der Hirntod nicht ordnungsgemäß festgestellt worden sei. Mancher, der einen Organspendeausweis in der Tasche trägt, fragt sich: Wie sicher sind die Regelungen zur Feststellung des Hirntods? Und wie wird das überhaupt gemacht, den Hirntod festzustellen?
„Tatsächlich wurden noch nie bei einem Verstorbenen Organe entnommen, bei dem sich vorher oder hinterher Zweifel an der Hirntoddiagnose ergeben haben“, sagt Dr. Peter Petersen, Leitender Transplantationsbeauftragter am Tübinger Uni-Klinikum. Es gebe Fälle, in denen die Untersuchungen abgebrochen wurden, weil widersprüchliche oder unklare Befunde vorlagen. Aber eine Organentnahme wird dann grundsätzlich nicht durchgeführt, wie in allen Fällen, in denen der Hirntod nicht sicher festgestellt werden kann. Diese hohe Sicherheit der Hirntoddiagnostik sei in der Medizin nicht selbstverständlich. „Ärztliche Fehler kommen vor“, sagt Petersen. Sie sind möglich bei unvorhergesehenen Komplikationen, wenn ein Patient schwerkrank oder lebensgefährlich verletzt ist und sehr schnell gehandelt werden muss. Diesen Zeitdruck gebe es bei der Hirntod-Diagnostik nicht – ein Umstand, der zur Sicherheit dieser Diagnose beiträgt. Der Patient befindet sich auf einer Intensivstation, Kreislauf und Atmung werden auch bei bereits eingetretenem Hirntod stabilisiert. Es gefährdet ihn nicht, wenn zusätzliche Untersuchungen nötig sind oder ggf. wiederholt werden müssen.
Wann kommt die Hirntod-Diagnostik zur Anwendung?
In den meisten Fällen, wenn Patienten etwa zu Hause sterben, kann der Arzt den Tod mit einfachen Untersuchungen feststellen. Die äußeren Todeszeichen sind eindeutig und auch für medizinische Laien erkennbar. Schwieriger ist es, wenn tief bewusstlose Menschen mit schweren Hirnverletzungen auf der Intensivstation liegen und beatmet werden. Ist der Hirnschaden reversibel? Gibt es eine Möglichkeit, dass dieser Patient jemals wieder ins Leben zurückfindet? Oder sind alle Bemühungen zu spät? Solche Fragen gehören zum Alltag auf der Intensivstation, erklärt Petersen.
Für Angehörige ist das schwieriger nachzuvollziehen. Denn das Beatmungsgerät hält auch den Kreislauf aufrecht, das Herz schlägt. Der Mensch sieht aus, als würde er schlafen, auch wenn das Gehirn bereits abgestorben ist. In solchen Fällen kann die Hirntod-Diagnostik durchgeführt werden, um Klarheit zu erhalten, ob es sinnvoll ist, den Patienten weiter zu beatmen und zu therapieren.
Immer muss sie im Fall einer geplanten Organspende durchgeführt werden. Die meisten Spenderorgane kommen von Patienten, die in einer solchen Situation gestorben sind: stationär auf einer Intensivstation des Klinikums und beatmet. Organspenden von Verstorbenen sind nur möglich, solange ihr Kreislauf noch künstlich aufrechterhalten wird. Die Organe müssen bis kurz vor ihrer Entnahme durchblutet sein, sonst sind sie nicht mehr funktionstüchtig. Es ist allerdings auch nicht möglich, den Kreislauf eines Verstorbenen über beliebige Zeit stabil zu halten. Gibt es also doch einen Zeitdruck bei der Hirntoddiagnostik? „Für uns hat absolute Priorität, dass alle Untersuchungsschritte vollständig und vorschriftsmäßig durchgeführt werden“, sagt Petersen. Theoretisch kann es bei Verzögerungen im Ablauf passieren, dass eine Organspende nicht mehr möglich ist. Aber daran lasse sich dann nichts mehr ändern - die Sicherheit des Spenders gehe vor.
Für die Hirntod-Diagnostik gibt es ein von der Bundesärztekammer festgeschriebenes Prozedere, das bundesweit gilt. Die aus dem Jahr 1997 stammenden „Richtlinien zur Feststellung des Hirntods“ schreiben insbesondere das „Vier-Augen-Prinzip“ fest, erklärt Dr. Sven Poli, Leitender Oberarzt an der Neurologischen Uni-Klinik. Zwei Ärzte müssen unabhängig voneinander den Hirntod feststellen; sie müssen beide über eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen verfügen. Dass es nicht zwingend Neurologen sein müssen, sondern auch Anästhesisten oder Internisten mit Intensiv-Erfahrungen sein können, hält er für richtig. Entscheidend sei die Expertise des Arztes. Ein Neurologe müsse aber zwingend verfügbar sein, um hinzugezogen werden zu können.
Am Uni-Klinikum verfügten mehr als zehn Intensivmediziner über diese Qualifikation. Zwei von ihnen werden gerufen, wenn bei einem Patienten mit schwersten Hirnschädigungen der Hirntod festgestellt werden soll.
Die Untersuchungen sind in den Richtlinien ebenfalls genau festgelegt. Sie reichen von Schmerzreizen (zum Test des vegetativen Systems) über Lichtreize und Berührungsreize im Auge (Hirnstammreflexe) bis hin zum Test von Würge- und Hustenreflex. Ebenfalls nicht unterdrücken kann ein noch lebender Mensch die Spontanatmung, wenn der Kohlendioxidgehalt im Blut einen bestimmten Grenzwert überschreitet, ein basaler Reflex, um ein Ersticken zu verhindern. Alle Untersuchungen werden nach zwölf, bei manchen Hirnschädigungen erst nach 72 Stunden wiederholt. Erst dann wird der Hirntod festgestellt.
Gibt es bei diesen vorgeschriebenen Untersuchungen irgendwelche Zweifel, stehen noch apparative Zusatzdiagnostika zur Verfügung, erklärt Poli: etwa EEG-Ableitungen (bei Kleinkindern verpflichtend) oder die Überprüfung der Durchblutung des Gehirns.
„Mehr kann man nicht machen“, sagt Poli, der diese Richtlinien als „sehr sicher“ einstuft. „Wenn das alles so funktioniert, dann darf nichts schiefgehen.“
Den aktuellen Bremer Fall möchten Petersen und Poli noch nicht kommentieren, da ihnen bisher keine genauen Informationen über den Ablauf vorliegen.

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Erstellt:
14.01.2015, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 30sec
zuletzt aktualisiert: 14.01.2015, 12:00 Uhr

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