Normaler Protest?

Stimmen zum Auftritt der Amazon-Gegner im Tübinger Gemeinderat

Mitglieder des Gemeinderats sahen sich durch Störer unter Druck gesetzt, andere verteidigen die Aktion.

16.11.2019

Von Gernot Stegert

Das war dann auch Evelyn Ellwart zu viel. Die Linken-Stadträtin ist Mitglied der „Amazno“-Initiative und hatte vor der Gemeinderatssitzung am Donnerstag für Protest gegen die Ansiedlung von Amazon in Tübingen getrommelt. Doch das anhaltende Niederschreien von Stadträten und Stadträtinnen findet sie falsch. Es sei nicht auf Dialog ausgerichtet und sei anstrengend, sagte sie am Freitag dem TAGBLATT. Auch ihre Rede sei beeinträchtigt worden. Auch müsse man die Gruppen unterscheiden. Etliche aus der „Amazno“-Initiative seien sauer auf die Dauerstörer.

Zugleich freut Ellwart sich, dass so viele Amazon-Gegner kamen und auch mit Transparenten und Rufen störten. „Ich finde es gut, dass es diese Protestform gibt.“ Sie schaffe Aufmerksamkeit. Sie habe deshalb auch applaudiert, als eine Gruppe ein Transparent vor die Verwaltungsbank gehalten hat. Aber: „Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Protest irgendwann aufhört.“ Oder dass Oberbürgermeister Boris Palmer konsequent die Störer rausgeschmissen hätte. Denn das gehöre auch zu dieser Widerstandsform.

Die Linken-Fraktionsvorsitzende Gerlinde Strasdeit sieht kein Problem bei dem Protest: „Das ist auch lebendige Demokratie. Schreien ist noch keine Gewalt.“ Strasdeit sagte: „Wir haben uns solidarisiert.“ Durch Aufstehen und Klatschen zu Aktionen. Sie beteuerte: „Wir haben nichts organisiert. Ich kenne die Gruppen nicht einmal alle.“

Auch die Amazon-Kritikerin Sara Gomes („Die Fraktion“) verteidigt die Protestierenden. „In erster Linie waren sie laut, mehr auch nicht. Daraus eine Gefahr für die Demokratie zu konstruieren, ist Quatsch.“ Die Stadträtin von der Liste „Demokratie in Bewegung“ wundert sich „ein wenig, wie dünnhäutig einige Gemeinderäte auf den Protest reagiert haben“. Mehr noch: „Bei der Verunglimpfung der Demonstrierenden mache ich nicht mit.“

Schon in und während der Sitzung hatten etliche Stadträte ihre Kritik deutlich formuliert. „Seit ich Stadträtin bin, habe ich mich noch nie so beeinflusst und bedrängt gefühlt wie heute“, schrieb Dorothea Kliche-Behnke (SPD) live auf Facebook. „Diese Form des Protests, die wir heute erlebt haben, ist nicht mehr angemessen und irritiert mich. Leute, sprecht uns an, diskutiert mit uns – aber schreit uns nicht in laufender Sitzung an.“

Dietmar Schöning (FDP) sagte in der Sitzung an die Störer gerichtet: „Ihre gnadenlose Arroganz geht mit auf den Geist.“ Er empfinde die Atmosphäre als bedrückend. Christian Mickeler (AL/Grüne), der gegen Amazon stimmte, sagte, die Art des Protestes hätte ihn fast gegen seine Überzeugung stimmen lassen. Auf der Seite der Tübinger Liste stand am Freitag: „Die Pluralität der Meinungen, die seriöse und tiefe Beschäftigung mit den Pro- und Contra-Argumenten bei allen gewählten Städträtinnen und Stadträten verunglimpften aggressive Demonstranten und Störer im Ratssaal.“

Boris Palmer ermahnte oft, ließ aber viel laufen. Er sagte am Freitag dem TAGBLATT: „Mich bedrückt es, wenn junge Leute sich im Glauben, für eine gute Sache zu kämpfen, radikalisieren und für Argumente unzugänglich werden. Ich war aber insgesamt beruhigt. Ich war stets sicher, dass wir die Kontrolle über die Situation haben.“ Den Saal ließ er trotz mehrfacher Androhung nicht räumen. Denn: „Verhältnismäßig ist eine Räumung nur, wenn anders die freie Beschlussfassung des Gemeinderates nicht mehr sicher gestellt werden kann. An diesen Punkt sind wir nicht gekommen.“ Politisch sieht er die Störung kritisch: „Der Protest hat durch die Missachtung demokratischer Grundregeln ein an sich legitimes Anliegen diskreditiert. Es gab gar keinen Grund für die Störung, denn im Gemeinderat haben zehn Stimmberechtigte und fast so viele Redner ziemlich vollständig alle Argumente der Gegner der Amazon-Ansiedlung vorgetragen.“

„Wir haben mit Störungen gerechnet“

Zur Sicherheit hatte die Stadt Polizeischutz für die Ratssitzung erbeten. Acht Beamte waren vor Ort und griffen mehrfach ein. „Wir haben mit Störungen gerechnet“, sagte der für Ordnung zuständige Rainer Kaltenmark. Fünf Personen seien des Saales verwiesen worden. Ihre Personalien wurden festgestellt. Gegen sie wird ein Verfahren eingeleitet, hat OB Boris Palmer entschieden. Er sagte: „Es ist kein Kavaliersdelikt, demokratische Entscheidungen verhindern zu wollen oder Gemeinderäte unter Druck zu setzen. Der Staat darf sich hier nicht schwach oder unentschieden zeigen. Das muss Konsequenzen haben. Wir sind eine wehrhafte Demokratie.“