Roman Polanskis großartige Verfilmung des berühmten Romans von Charles Dickens.

Oliver Twist

Roman Polanskis großartige Verfilmung des berühmten Romans von Charles Dickens.

24.11.2015

Von Detlev Ahlers

Oliver Twist

Mit "Oliver Twist" ist Roman Polanski (72) eine werkgetreue, aber nicht nur deshalb großartige Verfilmung dieses Klassikers der Weltliteratur von Charles Dickens gelungen. Man fühlt mit dem Buben mit, wenn er gierig nach den Abfällen grabscht, die für den Hund gedacht waren, wenn er verkauft und verprügelt, missbraucht und gerettet wird. Der zwölfjährige Barney Clark spielt den Oliver melancholisch, hinnehmend und doch mit dem Tatendrang, dem Schicksal eines Waisenkindes im englischen 19. Jahrhundert zu entkommen.

Der Film ist ein aufwallendes, düsteres Gemälde des Londoner Slums in satten, dunklen Braun- und Grautönen des Matsches, der Pfützen, Bruchbuden und Hinterhöfe. Sie bedrücken den Zuschauer, der manchmal nach hellen Farben so lechzt wie Oliver nach Hoffnung. Nur zwei Mal wird dieses Bedürfnis befriedigt: in den Landschaftsbildern zu Beginn des Films, wenn Oliver, geschunden im Waisenhaus und vom Bürgermeister, abhaut nach London. Und im idyllischen Garten des philantropischen Mr. Brownlow, der Oliver zunächst vergeblich aus dem Slum zu befreien versucht. Als er wieder eintauchen muss in die Welt der Kinderbande, Nutten und Verbrecher, tun das intensive Braun und Grau dann um so mehr weh - Oliver Twist wie dem Zuschauer.

Die Kürzung des Buchstoffs zum Film hat die Romanvorlage auf die sozialkritischen Elemente reduziert, die um so deutlicher hervortreten können. Das Wohlstandsschlemmen der Amtspersonen lässt die angesichts des Haferschleims der Waisenkinder widerlich erscheinen.

Während die Obrigkeit inklusive des Richters also nur scheußlich daherkommt, gelingt es Ben Kingsley, den Fagin, den buckligen Hehler und Herbergsvater der Kinderbande, in einer Ambivalenz darzustellen, die eine großartige Charakterstudie ergibt: Ihm geht es - anders als fast allen anderen Erwachsenen des Films - nicht nur um Ausbeutung, sondern auch um Erziehung (zur Kriminalität allerdings), sogar um Zuwendung, Wärme, vielleicht väterliche Freundschaft.

Das Klima in seinem Bandenwohnheim ist rau, aber viel herzlicher als im nur in Bosheit getränkten Waisenhaus. Fagin streichelt auch mal - nicht nur sein Diebesgut, sondern auch seine Schützlinge, die er kriminell benutzt. Wie er sich aus Ausbildungsgründen von seiner Bande ausrauben lässt, wie er dabei tänzelt und das Bürgertum imitierend lächerlich macht, ist einer der Höhepunkte des Films.

So bleibt die Rolle des Oberbösen für Bill Sykes, den Jamie Foreman als unberechenbaren und brutalen Psychopathen spielt. Er zwingt Oliver, bei Mr. Brownlow einzubrechen. Er erschlägt seine Geliebte Nancy (Leanne Rowe), die für Oliver die Zuneigung einer großen Schwester entwickelt, was ihr dann zum Verhängnis wird.

Polanski ist wieder ein eindrücklicher Film gelungen; man wird diese schmerzhaft detailgetreuen Bilder der Eingeweide der Armut im Moloch London womöglich so lange in Erinnerung behalten wie den Blick in den Kinderwagen von "Rosemaries Baby" (1968), den "Tanz der Vampire" (1967) und den Nasenschlitzer in "Chinatown" (1974). Das Mitleid mit Oliver wird nicht durch Wehleidigkeit erzeugt, sondern allein durch den Erzählstrang.

Es ist zunächst irrelevant, dass Polanski selbst als Waisenkind aufwuchs und herumgeschubst wurde. Denn er hat die Geschichte ganz die Dickens sein lassen. Doch das eine oder andere transportierte Gefühl hat dadurch vielleicht an Überzeugungskraft gewonnen.