Sulz · Dokumentation

Persönliche Zeitreisen berühren

Beim Generationenprojekt „Jung fragt Alt – Sulzer Geschichte(n): Was sollte nicht vergessen werden“ erzählten neun Bürger vom Aufwachsen in der Kriegszeit – mal erschütternd, mal amüsant, immer lehrreich und spannend.

13.07.2020

Von Cristina Priotto

Karl-Adolf Domonell beantwortete die Fragen von Anna Kienzle.

Karl-Adolf Domonell beantwortete die Fragen von Anna Kienzle.

Falls eine unsichtbare Wand zwischen den Generationen bestanden hatte, vermochten es die Interviews von zehn jüngeren Mitgliedern des Theaterclubs mit neun alten Sulzern für das Projekt „Jung fragt Alt“ unter der Leitung von Ursula Weber diese einzureißen und stattdessen viel gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Die Ergebnisse stellten die Beteiligten am Samstag 250 Interessierten zwei Stunden lang in der Stadthalle vor.

Geheime Besuche im „Waldhorn“-Garten, abgelassenes Badewasser, „Klepperles-Tee“, schwimmende Gedärme im Neckar und rasante Schlittenabfahrten von der Kappel, aber auch Hunger, Angst bei Fliegeralarm und Schicksalsschläge waren Themen der sehr persönlichen Schilderungen, die die Zuhörer teils unterhielten, oft aber bewegten.

Ein Bild der evangelischen Stadtkirche voll schwarzgekleideter Menschen in Trauer um Kriegsopfer vor Augen, richtete Marianne Frick (Jahrgang 1928) einen eindringlichen Appell an die nachfolgenden Generationen: „So etwas darf nie wieder passieren!“, mahnte die älteste Mitwirkende. Ins Gedächtnis eingebrannt haben sich bei Frick aber auch schöne Dinge, etwa geheime Spaziergänge im „Waldhorn“-Garten. Bei der Arbeit in Tansania in den 1960er-Jahren lernte die Krankenschwester, alle zu respektieren.

In Karl-Heinz Kienzles (Jahrgang 1939) Erinnerung spielte die Badeanstalt der Großmutter eine Rolle. Einschüchtern lassen habe sich die Rotgerber-Witwe nicht: Für die Gefangenen versteckte die Rebellin Brot und Äpfel in Salzhäufen. Wenn ein müder Arbeiter im warmen Wasser einschlief und die Badezeit überschritt, zog die Großmutter den Stöpsel, erzählte Karl-Heinz Kienzle schmunzelnd.

Von den Anfängen des Sulzer Krankenhauses berichtete Gernot Maier (Jahrgang 1942), Enkel des ersten Chirurgen in der Neckarstadt. „Damals herrschten mittelalterliche Zustände: Teils wurde auf zusammengeschobenen Esstischen operiert“, wusste Maier. Als 1929 das erste Röntgengerät nach Sulz kam, war dies etwas Besonderes. Bei Eltern warb Gernot Maiers Opa im Sinne der Suchtbekämpfung dafür, Kinder während der Feldarbeit nicht mit „Klepperles-Tee“, einem Sud aus gekochten, opiumhaltigen Mohnkapseln im Schoppen, ruhigzustellen.

„Ich war im Jungvolk“, leitete Richard Kitzlinger (Jahrgang 1934) einen erschütternden Bericht über Erlebnisse mit der NSDAP ein. Die Mutter brauchte den Sohn als Helfer im Garten und stellte sich gegen drei Mitglieder der Hitler-Jugend, die Kitzlinger Junior zum Fahnenappell abholen wollten: „Der Bub bleibt da, die Sachen müssen in den Boden rein“, sagte die resolute Frau. Die Folge: Ein SA-Mann drohte am nächsten Tag: „Tu das nicht mehr, sie holen Dich“. Mutig konterte auch Kitzlingers Onkel Emil auf Heimatbesuch die Frage eines Parteifunktionärs nach der Herkunft: „Ich komme von Russland, wo Ihr alle mal hingehört“. Danach bestieg der Onkel den nächsten Zug zurück an die Front, gerade noch rechtzeitig, denn bereits drei Stunden später suchte die Gestapo den Aufmüpfigen. Als schockierend und ernüchternd blieb Richard Kitzlinger die Sprengung der Löwenbrücke im Gedächtnis, die etliche Fenster bersten ließ.

Das Leben von Siegfried Esslinger (Jahrgang 1933) hätte im April 1945 beinahe eine frühes Ende gefunden. Nachdem das Wohnhaus, die „Sonnenburg“ (heute: Katharinenstift) bei einem Luftangriff stark beschädigt worden war, wollte Esslinger Trümmer beseitigen. Im Wohnzimmer brach der damals Elfjährige durch den Boden und brach sich den Arm. Tagelang war Esslinger bewusstlos, in der Stadt ging das Gerücht um, „der Schiffe“ sei tot. Der Glatter erzählte verschmitzt von der Idee, das Wasserschloss zu kaufen und das „Schloss-Café“ einzurichten, was Siegfried Esslinger, der dafür anfangs als Spinner und Fantast bezeichnet wurde, dank Beharrlichkeit und diplomatischem Geschick im Umgang mit dem Fürsten von Sigmaringen gelang.

Karl-Adolf Domonell (Jahrgang 1936) verbrachte Kindheit und Jugend auf der „Siedlung“, der heutigen Schillerhöhe. Obwohl es dort eine „Herrensiedlung“ und eine „Arbeitersiedlung“ gab, seien letztlich alle unter den gleichen Verhältnissen mit großen Grundstücken zur Selbstversorgung aufgewachsen. Gekickt wurde mit Fußbällen aus Lumpen und mit dem Schlitten die steile Kappel hinuntergesaust. An solche Zeiten erinnerte Domonell sich gerne zurück: „Ich möchte noch einmal ein Lausbub auf der Siedlung sein“, äußerte der Sulzer einen Wunsch. Von den Nazis im Tal habe man wenig mitbekommen. Als sechs Fliegerbomben auf die Stadt abgeworfen wurden, entkam Karl-Adolf Domonell knapp dem Tod.

Die ersten Nachkriegsjahre erlebte etwa Volker Bertram (Jahrgang 1942), der vor allem aus der Zeit als Lehrling bei den Steeb-Werken mit Postfrankieren und „Romadour“-Frühstück erzählte. „Es war eine harte Zeit, aber auch eine schöne Zeit“, fasste der Unternehmer zusammen. Durch die exportorientierte Firma VBM kam Bertram in aller Welt herum. „Leute in anderen Ländern denken wie wir auch, so sollten alle Menschen miteinander auskommen“, wünschte Volker Bertram.

Den Vater wollte Herwart Kopp (Jahrgang 1941) in Russland besuchen und stieg in einen Zug an die Front. Gerade noch rechtzeitig entdeckte die Cousine den kleinen Vetter. Kopp litt ständig Hunger, weshalb die Schulspeisung und Care-Pakete prägend blieben. Zwei der Care-Mehlsäcke stützen die Familie bis heute – als Kissenhüllen. Früh half Herwart Kopp beim Saubermachen im Schlachthaus und wusste daher, woher die Gedärme stammten, die beim Schwimmen neben den Kindern im Neckar trieben. Als Abenteuer-Spielplatz diente die Ruine Albeck, auf dem gefrorenen Neckar fuhren die Kinder Schlittschuh.

Karl Albert Ziegler (Jahrgang 1932) sind neben dem Kontakt mit Kriegsgefangenen („nette Leute“) und Fliegerangriffen vor allem Hochwasser im Gedächtnis geblieben. Der ehemalige „Lamm“-Wirt beschrieb zudem die Rettung der Ruine Albeck, die für Ziegler zur Lebensaufgabe wurde.

Die stellvertretend vorgelesenen Schilderungen der im Lauf des Projektes Verstorbenen thematisierten etwa den Umgang mit Zwangsarbeitern, Bespitzelungen und Gewalt gegen Häftlinge.

Als schützenswerte Werte empfahlen die Älteren Friede, Freiheit, eine heile Umwelt, Respekt und Anerkennung für die Vielfältigkeit der Menschen sowie Meinungs- und Pressefreiheit.

Abgerundet wurde die sehr gelungene Präsentation durch eine Fotoschau mit historischen Aufnahmen sowie einige gesungene Volkslieder, die Beate Roehse (Sopran), Saskia Rothenhäusler (Alt), Tobias Haas (Tenor) und Dennis Heitinger (Bass) vortrugen, von Urs Thiel an der Gitarre begleitet. Im Foyer waren Fotos und afrikanische Kunst ausgestellt.

Die Interviews führten Eva Eyrich, Christine Jacob, Anna Kienzle, Julian Link, Florian Maier, Saskia Rothenhäusler, Janina Schäfenacker, Sigrid in der Stroth, Bernhard Walter und Leonie Wohanka.

Florian Maier (links) interviewte Volker Bertram. Bilder: Cristina Priotto

Florian Maier (links) interviewte Volker Bertram. Bilder: Cristina Priotto

Janina Schäfenacker lauschte gebannt Siegfried Esslinger.

Janina Schäfenacker lauschte gebannt Siegfried Esslinger.

Marianne Frick erzählte Julian Link von Erfahrungen in Tansania.

Marianne Frick erzählte Julian Link von Erfahrungen in Tansania.

Karl-Heinz Kienzle hatte in Leonie Wohanka eine neugierige Fragende.

Karl-Heinz Kienzle hatte in Leonie Wohanka eine neugierige Fragende.

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13.07.2020, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 13.07.2020, 01:00 Uhr

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