Bundestags-Kandidatur

Annette Reif (Grüne): Politik-Neuling mit Ambitionen

Annette Reif aus Aldingen will Mobilität und Wirtschaft mit grüner Politik zukunftsfähig gestalten. Die 43-Jährige engagiert sich für Frauen.

10.08.2021

Von Cristina Priotto

Kirchliches Engagement ist für Annette Reif seit vielen Jahren selbstverständlich. In der Politik muss das neue Grünen-Mitglied erst noch Fuß fassen. Die 43-Jährige aus Aldingen strebt gleich als ersten Posten ein Mandat im Bundestag an. Privatbild

Kirchliches Engagement ist für Annette Reif seit vielen Jahren selbstverständlich. In der Politik muss das neue Grünen-Mitglied erst noch Fuß fassen. Die 43-Jährige aus Aldingen strebt gleich als ersten Posten ein Mandat im Bundestag an. Privatbild

Ungewöhnlicher kann eine mögliche politische Laufbahn kaum beginnen: Annette Reif trat im Februar 2020 bei Bündnis 90/Die Grünen ein – und gerade einmal fünf Monate später überzeugte die parteipolitisch völlig unerfahrene 43-Jährige bei der Nominierungsversammlung für die Bundestagswahl eine Mehrheit, und dies bei zwei Konkurrentinnen.

Im Gespräch setzt Reif sogar noch einen drauf: „Ich habe erst beschlossen, für den Bundestag zu kandidieren und bin danach Mitglied bei der Partei geworden, die ich ohnehin seit einigen Jahren wähle – den Grünen“, erzählt die Aldingerin, die zuvor niemanden beim Grünen-Kreisverband Tuttlingen kannte. Die Überraschung und Skepsis bei langjährigen Parteifunktionären seien bei der ersten Kontaktaufnahme groß gewesen, räumt die Bewerberin ein.

Familiäre Prädispositionen für diese Parteipräferenz finden sich bei Annette Reif keine: Die Mutter sei CDU-Wählerin, der Vater machte stets bei der SPD ein Kreuz, erzählt die Mittvierzigerin. Politik sei zu Hause nie Thema gewesen, kirchliches Engagement indes sehr wohl. Über Erfahrungen mit ehrenamtlichem Engagement verfügt die Bundestagskandidatin daher bislang vor allem in der evangelischen Kirche, besonders in der Jugend- und Frauenarbeit. Aktiv als Christin zu leben, beschloss Reif als 13-Jährige und sagt: „Ich stehe bis heute den ganzen Tag in Kontakt nach oben“.

Der Weg zu den Grünen habe sich langsam, aber zuletzt immer deutlicher entwickelt, beschreibt die 43-Jährige, die als globale Teamleiterin Operations bei der Firma Marquardt in Rietheim in der Automobilzulieferindustrie tätig ist. „Nachhaltigkeit wurde für mich in den vergangenen Jahren immer wichtiger, ich habe meinen Konsum und die Ernährung umgestellt“, verrät die Kandidatin. Aus der anfänglichen Vegetarierin wurde eine Frau, die sich seit sechs Jahren „so vegan wie möglich“ ernährt.

E-Auto: Übergangstechnologie?

Das Grünen-Ziel Nummer Eins, die Verbesserung des Klimaschutzes auch durch umweltfreundliche Mobilitätsalternativen zum Verbrennungsmotor, praktiziert die Aldingerin bereits privat und fährt ein Elektroauto, dessen Batterien über eine Fotovoltaikanlage zu Hause geladen werden können. „Das E-Auto ist eine Möglichkeit, vielleicht sogar nur eine Übergangstechnologie, aber der Individualverkehr wird im ländlichen Raum wichtig bleiben“, ist Reif überzeugt, die im Wahlkampf die Grenzen des öffentlichen Nahverkehrs selbst bereits des Öfteren erlebt hat. Während die Partei ab 2030 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zulassen möchte, zeigt Annette Reif sich offener: „Welcher Technologie die Zukunft gehört, kann heute niemand beantworten, weil diese sich rasend schnell ändert“, sagt die Neu-Grüne und klingt mit dieser Aussage eher nach FDP. Als Mitarbeiterin bei einem Automobilzulieferunternehmen hofft die Kandidatin, dass das dortige Know-How und die Infrastruktur erhalten bleiben und im Zuge des ökologischen Umbaus „Green Jobs“ entstehen.

Für jemanden, der sich selbst als jahrzehntelang „eher durchschnittlich politikinteressiert“ bezeichnet, hat die Aldingerin sich in jüngster Zeit tief in das 272-seitige Parteiprogramm der Grünen eingelesen – erst in den Entwurf und diesen dann als Delegierte beim Parteitag mitbeschlossen.

Hauptmotivation für die Teamleiterin waren soziale, ökologische und wirtschaftliche Themen. Eine wirtschaftsstarke Region wie der Wahlkreis müsse trotz aller notwendigen Veränderungen künftig wirtschaftsstark bleiben.

Der Diskussion um die Anhebung des Steuersatzes für Alleinerziehende auf 45 Prozent nimmt Reif den Wind aus den Segeln: „Das betrifft zwei Prozent der Bürger“, rechnet die Grüne vor. Wichtig ist der kirchlich Engagierten, die Steuereinnahmen sozialer zu verteilen. Zudem wäre eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro „ein wichtiger Schritt, um Care-Berufe attraktiver zu machen“, findet Annette Reif. Erhöhungsbedarf sieht die Christin auch bei den Hartz IV-Sätzen. „Davon muss man einigermaßen gut leben können in Deutschland“, meint die 43-Jährige und verweist darauf, dass durch den demographischen Wandel in den nächsten Jahren viele Kräfte gebraucht werden, da viele Ältere in Rente gehen.

Im Bereich Bildung habe die Corona-Pandemie viele bestehende Lücken offengelegt. Aus Sicht der Aldingerin wäre eine Fachkräfteoffensive für Erzieherinnen und Lehrkräfte sowie Quereinsteiger aus anderen Berufen dringend notwendig, damit Kindergärten und Schulen genügend Personal haben. Der Digitalpakt müsse stetig weiterentwickelt werden.

Gedanken macht die Bundestagskandidatin sich auch über den sozialen Wohnungsbau: „Bundesweit verlieren wir jeden Tag 100 Sozialwohnungen. Die Mittel müssen deutlich erhöht und Kommunen unterstützt werden“, beschreibt Reif eine mögliche Gegenmaßnahme.

Luft nach oben gibt es aus Annette Reifs Beobachtung zudem beim Thema Frauenförderung. Die Mittvierzigerin, die sich im Organisationsteam für das Frauenwirtschaftsforum Rottweil einbringt und bei der Firma Marquardt das Frauennetzwerk mitbegründet hat, sieht gerade die freie Wirtschaft noch ein ganzes Stück weit entfernt von Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Männer und Frauen. Die Grünen seien da fortschrittlich.

A propos Frauen: Was hält Annette Reif von Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin? Kurz überlegt die Bewerberin und räumt dann ein, die Grünen-Frontfrau bislang nur über die Medien kennengelernt zu haben. „Sie hat das Format einer Kanzlerin, verfügt über fachliche Expertise und punktet durch eine soziale Art“, attestiert die Aldingerin der möglicherweise zweiten Bundeskanzlerin in der deutschen Geschichte.

Ganz so ambitioniert wie der straffe Wahlkampf-Kalender Baerbocks sieht es in Reifs Agenda zwar nicht aus. Seit der Nominierung hat die Mittvierzigerin aber eigenen Angaben zufolge um die 100 Treffen absolviert. In den nächsten Wochen intensiviert sich der Besuchsmarathon auf drei bis sechs Begegnungen täglich, vor allem mit Firmen.

Bei einer Veranstaltung über Integration hat Annette Reif im Juni bereits kurz Sulz kennengelernt, zudem gab es einen Austausch mit dem Vöhringer Bürgermeister Stefan Hammer. Neben Bürgermeistern trifft die Kandidatin bis zum Wahltag am 26. September auch erfahrene Bundestagsabgeordnete auf Besuch im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen.

„Ich möchte das Direktmandat“

Das Motto des Grünen-Wahlprogramms lautet „Deutschland – Alles ist drin“, und davon ist auch die 43-Jährige überzeugt, was das Ergebnis am Wahltag angeht. Seit am 1. Januar 2020 „plötzlich der Gedanke in meinem Kopf war: werd Politikerin“, ist das Selbstvertrauen der Teamleiterin gewachsen. „Ich bin Realpolitikerin mit gesundem Pragmatismus, und ich möchte das Direktmandat“, bekundet Reif selbstbewusst. Dass die Grünen bei den vergangenen vier Bundestagswahlen
im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen stets lediglich einstellige Ergebnisse zwischen 6,1 Prozent (2005) und 9,5 Prozent (2017) einfuhren, schreckt die Bewerberin nicht ab.

Neben persönlichen Treffen setzt Annette Reif auch auf eine Homepage, betreibt einen Blog mit dem Titel „Mein Weg zu mehr Fairantwortung“, bespielt einen Twitter-Account und äußert im Podcast „SpruchReif“ regelmäßig Gedanken etwa über das Thema Gesundheit oder zur Zukunft der Automobilindustrie. Ob die Wahlberechtigten im nördlichen Teil des Landkreises Rottweil die Möglichkeit zu einer persönlichen Begegnung haben, ist offen.

Leben: Annette Reif wurde 1978 in Rottweil geboren und wuchs in Aldingen auf. Nach der Mittleren Reife machte Reif ab 1995 eine Ausbildung zur Fachangestellten für Arbeitsförderung bei der Agentur für

Arbeit Rottweil, Tuttlingen und Villingen.

Beruf: Nach der Ausbildung arbeitete die Aldingerin bis 2005 in verschiedenen Positionen bei der Agentur für Arbeit Rottweil, Tuttlingen und Villingen. Zwischen 2005 und 2011 war Annette Reif Einkaufsleiterin bei zwei Firmen der Druck- und Medienbranche. Seit 2011 arbeitet die 43-Jährige bei der Marquardt GmbH in verschiedenen Positionen, seit 2016 als globale Teamleiterin Operations. 2013 legte Reif an der Industrie- und Handelskammer Villingen-Schwenningen die Prüfung zur Wirtschaftsfachwirtin ab.

Politik: Mitglied bei Bündnis90/Die Grünen wurde Annette Reif im Februar 2020 und im Juli desselben Jahres als Bundestagskandidatin nominiert: Im zweiten Wahlgang mit zwei Mitbewerberinnen erhielt Reif 33 von 54 Stimmen.

Ehrenämter: Reif ist Mitglied bei den Grünen, war von 2014 bis 2018 zweite Vorsitzende des Evangelischen Bezirksjugendwerks Tuttlingen und davor mehrere Jahre lang Mitglied im Bezirksarbeitskreis. Zudem engagiert sich die Aldingerin seit 2018 im Orgateam des Frauenwirtschaftsforums Rottweil. Des Weiteren ist Annette Reif Gründungsmitglied des Frauennetzwerks der Firma Marquardt und Mitglied beim Turnverein Aldingen, bei den Gartenfreunden Aldingen und im Verein der Freunde und Förderer der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen.

Familie: Annette Reif ist verheiratet und lebt mit

ihrem Mann in Aldingen.

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Erstellt:
10.08.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 58sec
zuletzt aktualisiert: 10.08.2021, 01:00 Uhr

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