Tübingen · Berlinale

Queer abseits der Glitzermetropolen

Der Extübinger Paulo de Carvalho hat „Las Mil y Una“ mitproduziert: In einem nordargentinischen Armenviertel entdecken zwei junge Frauen ihre Zuneigung füreinander.

19.02.2020

Von Dorothee Hermann

Renata (Ana Carolina García, links) und Iris (Sofía Cabrera).Bild: Autentika Films

Renata (Ana Carolina García, links) und Iris (Sofía Cabrera).Bild: Autentika Films

In Tübingen kennt man Paulo de Carvalho als Festivalleiter des Cinelatino. Doch der gebürtige Brasilianer lebt seit ein paar Jahren als Filmproduzent in Berlin. Nun wurde schon der fünfte Film seiner Firma Autentika Films, die er 2007 gemeinsam mit Gudula Meinzolt gründete, zur Berlinale eingeladen: „Las Mil y Una“ (One in a Thousand) über eine erste Liebe in einem rauen Umfeld. Weltpremiere ist beim Berlinale-Auftakt am Donnerstag in vier Kinosälen gleichzeitig. „Das ist ein guter Start“, sagte de Carvalho dem TAGBLATT. „Das ist ein Schub für den Film.“ Mitproduzent ist Varsovia Films aus Argentinien.

Zwischen heruntergekommenen Wohnblocks am Rand der nordargentinischen Stadt Corrientes begegnet Iris (Sofía Cabrera), eine schüchterne Basketballspielerin, der erfahreneren Renata (Ana Carolina García), die eben in das triste Viertel zurückgekehrt ist. „Sie hat schon etwas erlebt. Sie ist ein bisschen wilder, ein bisschen selbstbewusster“, sagte de Carvalho. „Alles ändert sich für die Protagonistin, als die andere Frau vorbeikommt. Sie fühlt sich angezogen. Es gibt Klatsch, aber gleichzeitig auch Freundschaft.“

Regisseurin Clarisa Navas, geboren 1989, kennt den Schauplatz sehr gut: eine abgewrackte Sozialsiedlung in der Stadt Corrientes im Norden Argentiniens. Sie kommt selbst aus der Stadt. „Eine junge, talentierte, noch nicht so bekannte Regisseurin: Das ist unser Profil“, sagte de Carvalho. „Wenn das für die Berlinale passt, umso besser.“

Es ist ein armes Viertel, sagte der Produzent. Für Jugendliche gibt es dort nichts. „Sie hängen rum. Aber es ist nicht hoffnungslos. Sie haben nicht so viele Perspektiven, aber sie versuchen, miteinander zu leben.“ Die Filmemacherin konzentriere sich eben nicht auf Gewalt und Drogen, sondern auf die Jugendlichen, „die eine andere Sexualität leben, so gut sie können“, sagte er.

Navas versteht ihren teilweise autobiografisch inspirierten Film auch als Form des Protests: gegen die verbreitete Abwertung von Menschen, die am Rand leben müssen. Sie nahm sich vor, ihre Stimmen hörbar und ihre Körper sichtbar zu machen. Den harten Brüchen des Erwachsenwerdens wollte sie auch eine gewisse Leichtigkeit entgegensetzen – und das befreiende Potenzial des Begehrens in allen seinen Formen. Sie zeigt Begegnungen, die andere Lebensweisen eröffnen, einzigartig und leuchtend, aber flüchtig.

Wie die Regisseurin die Kamera einsetzt, hat de Carvalho beeindruckt. „Sie hat einen frischen cinematografischen Blick auf das Thema. Sie läuft mit der Kamera in der Hand durch die labyrinthischen Gebäude, und wir als Zuschauer laufen mit. Sie hat so eine natürliche Art, wie sie dreht und mit den Schauspielern arbeitet.“

Auch die Darsteller kommen aus der Region, die meisten sind Amateure. Die Filmemacherin und ihre Hauptdarstellerin Sofía Cabrera werden zur Berlinale erwartet. Ihre einfühlsame Coming-of-Age-Story eröffnet bei der 70. Internationalen Filmfestspielen an der Spree die „Panorama“-Sektion, die sich heuer unter anderem Migration, dem Suchen und Finden innerer Heimat sowie queeren Identitäten widmet. Der Film ist für den Teddy-Award nominiert, den LGBTIQ-Filmpreis der Berlinale. Der ging 2019 in gleich zwei Kategorien ebenfalls an Autentika Films: für „Breve Historia del Planeta Verde“.

Nach der Berlinale wartet das Cinelatino 2020

Im Trubel der Berlinale hat Filmproduzent und Festivalleiter Paulo de Carvalho schon das diesjährige Cinelatino im Blick. Es bringt vom 22. bis 29. April wieder Filme aus Lateinamerika und Spanien nach Tübingen. Das Programm muss am 5. März stehen. Direkt nach Berlinale-Schluss am 1. März reist Programmkoordinatorin Pola Hahn (Tübingerinnen auch vom Filmfest Frauenwelten bekannt) an, um gemeinsam mit Irene Jung und Maria Soldado das Cinelatino vorzubereiten. Soldado ist neu im Organisationsteam. Sie studiert Kulturmanagement in Ludwigsburg und ist zweisprachig: Deutsch und Spanisch.