Zeitgeschichte: Neues Buch über die 1968er-Jahre in Tübingen

Rebellisch bis in die Haarspitzen

Wie war das damals, als die Achtundsechziger das ruhige Tübingen aufmischten? Für ihr neues Buch sprach Gabriele Huber mit Ali Schmeissner, Inge Jens, Eugen Schmid, Anton Brenner, Beate Jung, Peter Langos und vielen anderen.

03.12.2016

Von Ulrich Janßen

„Dass so etwas in unserem Land passieren kann“: Vor der Neuen Aula protestierten 1967 die Studenten. Bild: Göhner/Stadtmuseum Tübingen

„Dass so etwas in unserem Land passieren kann“: Vor der Neuen Aula protestierten 1967 die Studenten. Bild: Göhner / Stadtmuseum Tübingen

Er war einer der umstrittensten Achtundsechziger, aber er zählte mit Sicherheit zu den führenden Köpfen der Bewegung in Tübingen. Ali Schmeissner, der Mann, der mit seiner Spielsucht 630 000 Mark veruntreute, war schon als Schüler ein Rebell. Er spürte, wo etwas los war, wo Politik gemacht wurde und er sich einbringen konnte. Schmeissner traf sich mit Rudi Dutschke, organisierte das legendäre Tübinger Konzert von „Ton Steine Scherben“ und sammelte zahllose Strafanzeigen ein. Zeitweise hatte er seinen eigenen LKA-Beschatter. Aber er half auch mit beim Aufbau des ersten Kinderladens in Tübingen und war Mitbegründer der Grünen.

Das Interview, das er Gabriele Huber kurz vor seinem Tod gab, zählt zu den spannendsten Gesprächen im neuen Buch der ehemaligen Kreisjugendpflegerin und Suchtberaterin. Schmeissner spricht mit einigem Abstand über sein wildes politisches Leben, und auch sehr offen über den damaligen Umgang von Frauen und Männern, über seine Erfahrungen in Schule, Bundeswehr oder Tanzschule. „Ali war blind und total fertig“, erinnert sich Huber an das Gespräch, „aber er war auch sehr reflektiert.“ Als sie sich von ihm verabschiedete, musste sie ihn in den Arm nehmen: „Ich konnte nicht anders.“

Wie schon in ihrem ersten Buch „Kriegerles und Geigenspiel“, in dem sie das Tübingen der Fünfziger Jahre lebendig werden ließ, gelingt es Huber auch in ihrem neuen Buch, die unterschiedlichsten Menschen zum Sprechen zu bringen und so ein vielfältiges Bild der Achtundsechziger-Zeit zu zeichnen. Huber, die 1951 geboren wurde, war selbst aktiv damals, gründete unter anderem das Jugendzentrum in Riedlingen mit und demonstrierte als Studentin in Tübingen. „Ich bin wirklich sehr geprägt von der Zeit“, sagt sie.

Zugleich aber blieb sie immer bodenständig, hat bis heute eine Sympathie für die schwäbischen Bruddler, die Unterstädter, die damals mit großem Misstrauen die Langhaarigen in der Stadt verfolgten.

Im Buch erinnert sich Renate Kürner, damals Schülerin, wie die Demos der „Scheißstudenten“ in der Bevölkerung ankamen: „Die machten nur ein Mordsgeschrei, hielten den Verkehr auf.“ Aber auch Kürner wurde damals infiziert vom Widerspruchsgeist, der die Stadt erfüllte: „Ich hatte ja den Kampf mit meinen Eltern auch, man wollte provozieren durch Kleidung und Frisuren.“

Eine, die mit großer Leidenschaft provozierte, war Margret Schwaderer. Die SDS-lerin wurde durch den Tod von Benno Ohnesorg politisiert. „Es hat mich total wachgerüttelt, dass so was in unserem Land passieren kann.“ Schwaderer ist Tübingerin, ging 1967 aufs Wildermuth-Gymnasium. Ihre Achtundsechziger-Erfahrungen sind typisch. „Ich war damals rebellisch bis in die Haarspitzen“, sagt sie. Sie demonstrierte gegen den Vietnamkrieg und gegen die Abschaffung des AStA, bewunderte die großen Idole, merkte aber auch bald, wie viel „Blabla“ produziert wurde in den Vollversammlungen und dass es vor allem „die Männer waren, die das Sagen hatten“.

Während die Ex-Achtundsechziger oft desillusioniert zurückblicken, zeigen sich die Konservativen von damals heute eher milde. Ex-OB Eugen Schmid zum Beispiel. Als ausbildender Richter bekam er es Ende der Sechziger Jahre plötzlich mit Jura-Studenten zu tun, die „in mir vorwiegend den Repräsentaten eines politischen Systems sahen, mit dem sie nichts zu tun haben wollten“ – und sich entsprechend verhielten. Schmid selbst war kein Rebell. Aber er versuchte (auch später als OB), die Situation nicht eskalieren zu lassen. Heute erkennt er durchaus an, dass damals die „Widerspenstigen die Interessanteren“ waren.

Gabriele HuberPrivatbild

Gabriele HuberPrivatbild

Rebellisch bis in die Haarspitzen

Das neue Buch von Gabriele Huber

„Straßenkampf und Kinderladen“ ist ab der kommenden Woche in vielen Buchhandlungen und beim TAGBLATT erhältlich (in der Rottenburger Geschäftsstelle erst ab Mittwoch). Das 200 Seiten starke Buch mit Hardcover kostet 19,- Euro. Es enthält Interviews mit Anton Brenner, Rita Haller-Haid, Gerhard Dieterle, Beate Jung, Renate Kürner, Detlev Nottrodt, Ulrike Pfeil, Erika Porra, Ali Schmeißner, Margret Schwaderer, Eugen Schmid, Inge Jens, Burkhardt Stein, Peter Langos und Alice Mystigatz.