Feurige Scheiben am Funkensonntag

Reinhold Bauer forscht über einen Entringer Großbrand im Jahr 1685 - der aber in Eutingen geschah

Der Eintrag auf Wikipedia, ist lapidar: „Im Jahr 1685 vernichtet ein Großbrand 133 Gebäude im Ort“, heißt es über Entringen in der freien Enzyklopädie im Internet. Der Eintrag ist falsch. Da ist sich Reinhold Bauer ganz sicher.

10.03.2018

Von Uschi Hahn

Fürs Jahr 1685 verzeichnet der Herrenberger Vogt Heß in seiner Chronik folgendes (im Bild zweiter Absatz rechts): „Den 1. Marty haben die Buben zu Entringen feurige Scheiben geschlagen, von dießen fiel eine auf ein Schaubtach, wovon 133 First im Rauch aufgangen, auch gieng viel Frucht und Vieh zu Schanden“. Abgebildet ist hier die wohl noch zu Lebzeiten von Heß angefertigte Reinschrift der Chronik, die im Herrenberger Stadtarchiv aufbewahrt wird. Bild: Bauer

Fürs Jahr 1685 verzeichnet der Herrenberger Vogt Heß in seiner Chronik folgendes (im Bild zweiter Absatz rechts): „Den 1. Marty haben die Buben zu Entringen feurige Scheiben geschlagen, von dießen fiel eine auf ein Schaubtach, wovon 133 First im Rauch aufgangen, auch gieng viel Frucht und Vieh zu Schanden“. Abgebildet ist hier die wohl noch zu Lebzeiten von Heß angefertigte Reinschrift der Chronik, die im Herrenberger Stadtarchiv aufbewahrt wird. Bild: Bauer

Erst kürzlich hat der Mesner, Kirchenmusiker, Gemeinderat und Ortshistoriker wieder versucht, den Satz zu löschen. Vergebens. Noch immer wird weltweit über Entringen die Fake Story vom Großbrand verbreitet. Dabei hat Bauer längst erforscht und auch niedergeschrieben, dass dieses Großfeuer nie gewütet hat. Zumindest nicht in seinem Heimatort. Sondern 20 Kilometer entfernt, in Eutingen bei Horb.

„Keine Ruhe“ lässt diese Geschichtsfälschung dem 66-Jährigen. „Mich ärgert halt, dass das immer noch rumgeistert, obwohl das Feuer gelöscht ist“, sagt er und verweist auf die Denkschrift zum 125-jährigen Bestehen der freiwilligen Feuerwehr in Entringen. Schon damals, 1987, hat Bauer den historischen Irrtum für jeden lesbar aufgeklärt.

Es waren die Recherchen zu der Jubiläumsschrift, die Bauer darauf brachten, dass hier etwas hartnäckig verfälscht wird. „Bis dahin wusste ich nur, dass es gebrannt haben soll“, sagt er. 1966, da war er 15, hatte Bauer in den Aufschrieben des damaligen Entringer Schulrektors Paul Kehrer zum ersten Mal gelesen von dem „großen Brand, der durch zündelnde Kinder verursacht wurde und dem 133 Gebäude zum Opfer fielen“. Später stieß Bauer auf das Werk des Leipzigers Dr. Otto Kunzmann, der 1965 über die Heimat seiner Mutter schrieb: „Trotzdem 1685 ein großer Brand in Entringen mehrere Gehöfte eingeäschert hatte, wird im folgenden Jahre in der Kirche eine neue Orgel beschafft und aufgestellt.“

Doch wo waren die Quellen? Bauer wandte sich an Traugott Schmolz, den Stadtarchivar von Herrenberg, zu dessen Amt Entringen einstmals gehörte. Schmolz schickte ihm einen Auszug der Reinschrift der Chronik, die der Vogt Gottlieb Friedrich Heß (1697 bis 1761) über Stadt und Amt Herrenberg verfasst hatte. Tatsächlich: Heß schrieb über einen Brand, der am 1. März 1685 von „Buben zu Entringen“ entfacht wurde, die mit einem vorösterlichen Brauch den Winter austreiben wollten und dabei den Ort in Brand steckten (siehe das Bild und die Unterschrift).

Reinhold Bauer Archivbild

Reinhold Bauer Archivbild

Bauer, der nie eine höhere Schule besuchte, reichte das nicht als Quelle. Schließlich war Heß nicht Zeitzeuge. Der Brand, den der hochgebildete Beamte für Entringen überlieferte, hatte zwölf Jahre vor Heß’ Geburt gewütet. Bauer wälzte die zur fraglichen Zeit peinlich genau geführten Entringer Kirchenbücher. Dort hätte etwas über das verheerende Großfeuer stehen müssen. Er fand zwar Einträge über viele kleinere Brände. Doch über den vermeintlichen Großbrand, der mit 133 Häusern praktisch den gesamten Ort zerstört haben müsste, stand da nichts.

Wo jetzt nach historischen Beweisen suchen? Reinhold Bauer machte sich auf den Weg nach Stuttgart. Dort wird nicht nur das Original der Vogt Heß’schen Chronik aufbewahrt. Im Staatsarchiv lagern auch etliche Regalmeter alter Rechnungsbücher der geistlichen Bezirksbehörden, also auch der Klosterverwaltungen. Aufs „Gratwohl“ habe er die Handschriften durchgesehen, erinnert sich Bauer an den 4. Mai 1987. Den Beleg für seine Bestellungen im Archiv hat er noch. Dass er dabei auf den Aufschrieb von Johann Martin Hiller dem Jüngeren stieß, seines Zeichens Rechner der klösterlichen Bebenhäuser Pflege, bezeichnet Bauer als „reinen Zufall“.

Der Pfleger als Verwalter des klösterlichen Besitzes hatte unter „Ausgaben Wein“ notiert: „Den 1sten Marty 1685 ist nachts Zeit zu Eytingen, Hohenberger Herrschaft ein Feuer Brunst durch das schauben schlagen und Verbrennung gewöhnlicher Butzen, so sie dermahlen Dr. Luther genennet und genannt haben, ausgegangen, welche 137 Gebäude eingeäschert hat, weßhalber allhier auf dem schloß geschoßen und Lermen worden, worauf sich der Pfleg Handwerks Leuth auch wieder eingefunden, die aber dargegen zum Trunk erhielten 1 Dz 4 Maß.“ Übersetzt hieß das für Bauer, „dass am 1. März 1685 Handwerksleute, die anlässlich einer Feuersbrunst zu Eytingen (Hohenberger Herrschaft) auf dem Schloss zu Tübingen geschossen und Lärm gemacht haben, zum Trunk 14 Maß (circa 25 Liter Wein erhielten“.

Dem Vogt auf der Schliche

Man kann sich das innere Jubilieren von Reinhold Bauer im Lesesaal des Staatsarchivs gut vorstellen. Was sein Lehrer Kehrer wohl gar nicht erst versucht hatte, war ihm, dem Bauernsohn, gelungen. Er war dem großen Vogt Heß auf die Schliche gekommen. Nicht in Entringen, sondern in Eutingen hatten Buben brennende Scheiben mit Stockschlägen durch den Ort getrieben und damit den Großbrand verursacht. Was Bauer dann auch in der 1905 verfassten Beschreibung des Königreiches Württemberg bestätigt fand. Auch dort wird im Kapitel über Eutingen der „Brand von 1685“ erwähnt. Der Irrtum war aufgeklärt.

Ein bisschen klingt noch heute der Stolz durch, der Bauer 1987 im Mai gepackt haben muss: „Das ist ja nicht gerade mein tägliches Geschäft gewesen“, sagt der gelernte Landwirt über seine Jagd nach der historischen Quelle. „Wirklich nicht.“ Zugute sei ihm dabei gekommen, „dass ich die Schrift hab’ lesen können“.

Fürs Jubiläum der Entringer Feuerwehr wusste Bauer damals genug. Er rückte die schriftlichen Beweise im Faksimile und in seiner Übersetzung in die Denkschrift und ließ es dabei bewenden.

Doch dann kam das Internet und mit ihm der falsche Wikipedia-Eintrag über Entringen. Bauers wissenschaftlicher Ehrgeiz flammte wieder auf. Noch einmal wandte er sich an Schmolz, den ehemaligen Herrenberger Stadtarchivar. Im Mai 1995 schrieb der ihm einen langen Brief, in dem er auf den Brauch des Scheibenschlagens einging. Genauso wie das Verbrennen der Butzen genannten Strohpuppen handelte es sich ursprünglich um die symbolische Verbrennung des Winters. Aus dem heidnischen Ritual war 1685 längst ein in katholischen Gegenden noch immer gepflegter Fastnachtsbrauch geworden.

Deshalb auch die „Dr. Luther genannten“ Butzen aus dem Bebenhäuser Rechnungsbuch. Zwar war in Württemberg bereits 1534 die Reformation eingeführt worden. Doch Eytingen (heute Eutingen im Gäu) gehörte 1685 zur katholischen Herrschaft Hohenberg. Gut 150 Jahre nach dem Siegeszug Luthers wurde also am ersten Sonntag der Fastenzeit, dem so genannten Funkensonntag, in Eutingen nicht nur der Winter vertrieben, sondern auch der Reformator selbst symbolisch verbrannt. Im damals bereits evangelischen Entringen wäre das nie passiert.

Es sollte auch in Eutingen nie wieder geschehen. Denn wie Scholz Bauer mitteilte, führten die 137 Brandruinen in nur einem Dorf zum Verbot des Scheibenschlagens.

Der ehemalige Stadtarchivar Schmolz, der 2009 starb, löste für Bauer noch andere Rätsel aus dem Rechnungsbuch. Es war damals üblich, dass bei großen Bränden Alarmkanonen abgefeuert wurden, deren Lärm zehn und mehr Kilometer weit zu hören war. Auf dieses Zeichen mussten sich die Handwerksleute, die zur Bebenhäuser Pflege gehörten auf dem Schloss einfinden. Bei Bedarf wurden sie dann zum Löschen entsendet. Ob es sich bei dem Schloss tatsächlich um das Tübinger handelt, wie Bauer vermutet, zweifelte Schmolz an. Auch Herrenberg hatte eine Bebenhäuser Pflege, den Pfleghof in der heutigen Bronngasse 13. Und auch auf dem Herrenberger Schloss gab es Lärmkanonen. Ob die Handwerker in Herrenberg oder in Tübingen nach der Feuersbrunst ihren Durst gelöscht haben, ist also noch ungewiss. Klar aber ist, dass das Feuer in Eutingen und nicht in Entringen wütete.

Was sich Reinhold Bauer manchmal fragt, ist woher der Herrenberger Vogt seine Falschinformationen hatte. „Wo hat Heß abgeschrieben?“ Oder hat er sich einfach verschrieben? Entringen und Eutingen jedenfalls wurden auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch verwechselt. So weiß Bauer von Briefen aus Kriegsgefangenschaft, die erst auf einem Umweg nach Entringen gelangten – mit dem Vermerk „Name in Eutingen unbekannt, Versuch in Entringen.“

Zehn verlorene Tage

Bleibt noch die Sache mit dem Datum. Bisher war immer die Rede vom 1. Marty, dem ersten März also. Doch auch das ist die Unwahrheit – zumindest aus heutiger Sicht. Das weiß Bauer, seit er im Internet auf die Horber Oberamtsbeschreibung aus dem Jahr 1865 stieß. Auf Seite 169 steht dort über Eutingen: „Der sehr ansehnliche Ort, welcher den 11. März 1685 größtenteils (134 Hauptgebäude) abbrannte …

Ein Schreibfehler? Bauer dachte nach. Wann war noch gleich in Württemberg die Kalenderreform? Es war 1699. Erst da verloren mit der Übernahme des gregorianischen Kalenders hierzulande auch die Protestanten jene zehn Tage, die Papst Gregor XIII bei seiner Überarbeitung des alten julianischen Kalenders bereits 1582 gestrichen hatte. 1685 war vor der Reform. Der Tag, der in Eutingen als 11. März verheerend in die Annalen einging, weil in der katholischen Herrschaft Hohenberg der Funkensonntag feurig begangen wurde, war im protestantischen Herzogtum Württemberg also der 1. März gewesen.

Und so können am morgigen Sonntag die Entringer froh sein, dass ihr Ort vor 333 Jahren von keiner Feuersbrunst heimgesucht wurde. Doch selbst für Eutingen hatte der Tag im Nachhinein etwas Gutes. Laut Horber Oberamtsbeschreibung wurde der in Schutt und Asche liegende Ort nach dem „Brande schön und beinahe quadratisch angelegt“. Jetzt muss nur noch der Wikipedia-Eintrag verschwinden.