Die Reste der Feste

Reportage über die Müllbeseitigung in Tübingen am Sonntagmorgen

Jedes Wochenende rücken gegen sechs Uhr ein Dutzend Straßenreiniger aus. Sie räumen auf mit dem, was von den Feiern draußen übrig bleibt.

09.07.2018

Von Mario Beißwenger

Die Treppe vor der Stiftskirche ist am Sonntagmorgen eine Müllhalde. Bild: Beißwenger

Die Treppe vor der Stiftskirche ist am Sonntagmorgen eine Müllhalde. Bild: Beißwenger

„Herzlich Willkommen“ steht handschriftlich auf dem Hals der Flasche Sekt Marke Hohentübingen. Sie liegt zusammen mit einem angebrochenen Päckchen Schoko-Rosinen, Zigarettenstummeln, ausgeschütteten Kartoffel-Chips und Einweghandschuhen vor der Schulmensa in der Tübinger Uhlandstraße. Die leere Sektflasche ist unzerbrochen und schnell eingesammelt.

Ein Dutzend Leute von den Kommunalen Servicebetrieben Tübingen (KST) in sechs Fahrzeugen rücken am Sonntagfrüh aus, um das Gröbste wegzuräumen, zusammenzukehren und aufzusammeln, was die Leute mit Lust auf Straßenparty die Nacht über zurückgelassen hatten. Zuvor dreht Wolfgang Mang seine Kontrollrunde. Er beginnt gegen fünf Uhr. Vorher habe es noch keinen großen Sinn, weil die Leute mit Durchhaltevermögen sich dann noch bei einem Imbiss versorgen und anschließend erst die Reste fallen lassen.

Die Event-Meile vermüllt

Mangs Blick gilt den besonderen Herausforderungen. Braucht er extra eine Kehrmaschine? Gibt es zwischen Rathaus, Lustnauer Tor und Busbahnhof einen Ort mit besonders viel Müll? Braucht er den Hochdruckreiniger, weil sich Erbrochenes häuft? Nein, an diesem Sonntagmorgen ist alles ganz normal: überall überquellende Mülleimer. Die Treppen an der Stiftskirche sind eine nicht aufgeräumte, überdimensionale Theke mit Bechern und Flaschen.

Für den Leiter des Bereichs Infrastruktur bei der KST ist der kleine Müllberg vom Sonntagmorgen normal. „Das ist heute überschaubar.“ Jeden Tag kommen so um die zwei Tonnen Abfall zusammen. Den müssen die Stadtreiniger, einige im Minijob, andere fest angestellt, aber zuerst mal mit dem Greifer aufsammeln, aus den Ritzen kehren oder mit der Hand aus dem Rasen fummeln.

Etwa die Glasscherben im Bota. Günter Hellmich, einer der städtischen Saubermacher, erklärt, wie es mitten im weichen Rasen Scherben gibt. „Es gibt da ein neues Spiel: Mit einer Flasche auf die anderen werfen, bis alle kaputt sind.“ Er sammelt die Scherben ein, fegt sie aus dem kurzen Gras und tritt die Krümel tiefer in die Erde. Nach einem Gang am Morgen über städtisches Grün kommt niemand mehr auf die Idee, dort barfuß zu laufen. Ein Hund möchte man auch nicht sein.

Mit einer bemerkenswerten Ausdauer und Hingabe machen die Männer den Dreck weg. Ein kurzer Selbstversuch zeigt, wie schnell das nervt (siehe Infobox). Albert Füger, Chef des Tiefbauamtes und technischer Betriebsleiter der KST, freut sich, dass morgens eine motivierte Gruppe aufräumt. Das sei eine sinnvolle gesellschaftliche Aufgabe „und wenn man fertig ist, sieht man was man geschafft hat“.

Der letzte Plastebecher von der Stiftskirchentreppe landet in der Tüte. Pattal Toktas (links) und Marinka Karoly haben aufgeräumt. Bild: Beißwenger

Der letzte Plastebecher von der Stiftskirchentreppe landet in der Tüte. Pattal Toktas (links) und Marinka Karoly haben aufgeräumt. Bild: Beißwenger

Wo sich der Müll konzentriert, können weder Mang noch Füger vorhersagen. Der Marktplatz vor dem historischen Rathaus, früher ein nächtlicher Tummelplatz, ist nur noch wenig frequentiert. Neue hübsche Plätzchen, wie der an der Ammer hinterm Technischen Rathaus, muss die „Crowd“, die Menge, erst entdecken. Die befeiert und vermüllt vor allem die Event-Meile vom Lustnauer Tor bis zur Bahnhofsunterführung. Gelegentliche Müll-Hotspots sind an der renaturierten Ammer oder am Neckar. Besonders auf die Nerven gehen den Anwohnern gerade die Feierei und ihre Folgen an der Steinlach.

Die Müllentsorgung der Open-air-Festchen belastet den Stadtetat mit einem größeren sechsstelligen Betrag. Allerdings ist bei den Ausgaben nicht nur der Partymüll drin, sondern auch alle anderen Reste, die die Stadt wegmacht. Es gibt Stadtviertel, so sagt Mang, wo es fast üblich ist, den Restmüll vom Haushalt dezent neben dem städtischen Mülleimer zur Abholung bereitzustellen.

Die Straßenreiniger sprechen von „Täglich grüßt das Murmeltier“ oder vom Mythos von Sisyphos. Das Anarbeiten gegen die Vermüllung erscheint endlos. Die Motivation hochhalten kann die Stadt mit der Bezahlung für die ungelernte Tätigkeit. Die Wochenend-Schichten übernehmen manche im Nebenjob oder im Zuverdienst als Rentner. Wer fest angestellt ist, bekommt mindestens Entgeltgruppe 4.

Dann musste die Feuerwehr ran

Für die Männer und Frauen gibt es auch beschauliche Seiten der frühen Müllsammelei. Die letzten Feierbiester gehen heim. Es entspinnt sich ein Gespräch mit einem Betriebswirt über die optimale Entsorgung. Die ersten Frühaufsteher rattern mit Rollkoffer Richtung Bahnhof. Ein kurzer Blick zum Indianersteg. Ob die Jungs wirklich in den Neckar springen? Es gibt Geschichten wie die von der Frau, die nach dem Schwimmen im Kleid aus dem Neckar stieg oder die Windel an der Brunnenfigur auf dem Holzmarkt. Gelegentlich stolpern die Straßenreiniger über ein ungeniertes Pärchen, das ihnen beim Liebesakt zuwinkt.

Müll zeichnet manchmal sogar Idyllen in den frühen städtischen Morgen. Mang entdeckte schon eine Unzahl von kleinen Wodkaflaschen, die im Morgenlicht auf dem Anlagensee trieben und mit ihren Flaschenhälsen funkelten. „Das war eigentlich ein ganz netter Anblick.“ Zum Einsammeln musste dann die Feuerwehr mit einem Boot ausrücken.

Wodka-Flasche, fein verteilt – ein Selbstversuch

Der Reporterhat den Besen auch selbst in die Hand genommen: Erstaunlich, dass sich mit nur einer Flasche runde 40 Quadratmeter mit einer Schicht von Scherben bedecken lässt. Es war mal eine „Beluga Noble“-Wodka, mit 30 Euro das Gebinde nicht ganz billig. Nun liegt sie in Einzelteilen vor der Mensa in der Uhlandstraße. Die Nylonborsten des Stoßbesens bringen die Überreste flott auf ein Häufchen. Aber diese Schnipsel. Kassenbon, Werbeflyer, Aufkleber: alles scheint das Partyvolk klein zu arbeiten, wenn die Flaschen kreisen. Die Fitzel haften wie festgesaugt am Boden. Auch nach dem dritten Schrubben, sind sie nicht auf den Kehrichthaufen zu bringen. „Machen Sie das erst mal bei Regenwetter“, sagt Wolfgang Mang, direkter Vorgesetzter der Straßenreiniger. Testhalber hat er den Berichterstatter zum Probekehren in die Uhlandstraße eingeladen.

Die Tauben haben am frühen Morgen keine Lust die Chipsreste aufzuräumen, die Ratten haben die Schoko-Rosinen links liegen lassen. Die Menschen haben sie ja auch nicht gegessen. Klebrige Plaste-Becher, Zigarettenschachteln und die abgefallenen Samenstände der Linden kommen in die großen Plastikbeutel. Zwei Stück von ihnen werden vor der Mensa voll. Die Stiftskirche schlägt sieben Uhr, die Mönchsgrasmücke trällert. Geschafft. Radler können etwas sorgenfreier entlang radeln. Richtig sauber ist natürlich nicht, für den Hausmeister bleibt noch Arbeit. Und dieses verdammte Weingummi-Colafläschle, das so fest auf dem Asphalt hing, entdecke ich zu Hause unter meinem Schuh.

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Erstellt:
09.07.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 02sec
zuletzt aktualisiert: 09.07.2018, 01:00 Uhr

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