Savage Grace

23.11.2015

Ein denkwürdiger Tag, dieser 20. November 1971. In der Berliner Deutschlandhalle sucht ein bleicher, hohlwangiger Gottseibeiuns nach Jesus Christus. Nicht nach dem Heiland in Kirchenfasson, sondern nach dem unduldsamen Rebellen, der Reizfigur. Und bald schon findet sich Klaus Kinski, als Apostel des gekreuzigten Underdogs, seinerseits in der Erlöser- und Erleiderrolle wieder: Ein grandioses Stück wahrhaftiges Theater, zwischen Exerzitium, Exorzismus, Großreinemachen und Publikumsbeschimpfung, das der Kinski-Nachlassverwalter und ehemalige Tübinger Jurastudent Peter Geyer jetzt fürs Kino ausgegraben und zusammengeflickt hat.

Kinskis Antichristmesse, die das Evangelium mit obszönem Rimbaud- und Bataille-Furor beim manchmal unfrommen Wort nimmt, prallt an diesem Abend auf eine unheilige Allianz aus Sit-in-gestählten Apo-Dumpfbacken („Klaus Kinski, Faschist?, werden sie skandieren) und empörten Rechtgläubigen, die Kinskis Zweifel und Verzweifeln am protest-resistenten Gottvertrauen als eine Mischung aus Häresie und Hysterie empfinden. So kommt?s zwangsläufig zum Tumult, zum Skandal: Menschensohndarsteller Kinski, der seinen Ruf damals durch aasig-glasige Psychopathenrollen noch etwas stark ramponiert hatte, verliert angesichts der feindselig-brunzdummen Störmanöver zunehmend die Fassung.

Wer erlöst ihn von diesem Übel? Mit Jesus-Sätzen wie Peitschenhieben treibt Kinski, der begnadete Choleriker vor dem Herrn, all die verbalen Steinewerfer und Schweinepriester aus seinem Tempel. Um schließlich doch zu triumphieren: Die Veranstaltung scheint längst gesprengt, da steigt Kinski, der Erlöser, um Mitternacht zu einigen übermüdeten Jüngern herab ins Parkett und bringt die Vorstellung ungestört zu Ende. Das Gute siegt. Und Geyer, schnitttechnisch übrigens unterstützt vom Tübinger Konrad Bohley, ist ein packendes Zeitdokument geglückt.

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Erstellt:
23.11.2015, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 1min 46sec
zuletzt aktualisiert: 23.11.2015, 12:00 Uhr

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