Schattendasein

Eine in Tübingen vorgestellte Studie über Langzeitauswirkungen von sexualisierter Gewalt gegen Frauen zeigt, wie entscheidend das soziale Umfeld für die Aufarbeitung von Missbrauch ist (15. Dezember).

27.12.2016

Von Uwe Brauner

Die Aussage, das Phänomen der häuslichen Gewalt betreffe sämtliche soziale Schichten, ist zwar nicht grundlegend falsch. Allerdings erweckt sie den Eindruck, als ob Gewalt gegen Frauen unabhängig von sozialem Status, Einkommen und Bildungsniveau überall gleich häufig vorkäme. Doch müsste man mir die Publikation, die diesen Nachweis explizit antritt oder über die Verteilung von Gewalt in verschiedenen sozialen Schichten differenzierte Angaben macht, erst noch nennen.

Exemplarische Fälle verstärken vielmehr den Eindruck, dass häusliche Gewalt überwiegend in sozial schwachen Bevölkerungsschichten (oft gemeinsam mit Armut, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus) und in bestimmten Migrantenfamilien auftritt. Diese Erkenntnis ist beinahe so alt wie die Sozialwissenschaften selbst. Sie fristet heute jedoch ein Schattendasein. Dies scheint der gegenwärtig starken feministischen Beeinflussung des öffentlichen Diskurses geschuldet zu sein.

Einzuräumen, dass die Grenze des Phänomens Beziehungsgewalt entlang der seit Jahrzehnten von der Sozialforschung identifizierten sozialen Verwerfungslinien verläuft, hieße, die feministische These aufzugeben, dass Beziehungsgewalt geschlechtlich determiniert sei. Dass die dominierenden Akteure häusliche Gewalt stattdessen undifferenziert zu einem flächendeckenden Phänomen erklären, bedeutet, dass sie diese Gewaltform so darstellen, als sei das Geschlecht der wesentliche oder gar der einzige Faktor, der die Ausübung häuslicher Gewalt beeinflusse.