Ein braver Familienvater schlägt eine Schneise der Verwüstung durch sein bisheriges bürgerliches Leben.

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Ein braver Familienvater schlägt eine Schneise der Verwüstung durch sein bisheriges bürgerliches Leben.

23.11.2015

Von che

Was ist bloß in Antoine gefahren? Gestern war er noch ein treu sorgender Familienvater und stolzer Besitzer einer florierenden Werbeagentur. Heute vergrault er in einer Arbeitssitzung seinen wichtigsten Kunden und wirft kurz darauf seinem entsetzten Kompagnon die ganze Firma vor die Füße.

Ein kurzer Ausraster eines Midlife-kriselnden Mittvierzigers? Keineswegs, denn Antoine schlägt unverdrossen weiter eine Schneise der Verwüstung durch sein bisheriges Leben. Pöbelt seine Schwiegermutter an, ruiniert mit kindischer Wonne fremder Leute Grünflächen und treibt daheim mit gemeinem Psychoterror Frau und Kinder in die Enge. Der Showdown folgt tags darauf bei seiner Geburtstagsparty, wo er seine bourgeoisen Gäste mit verbalem Unflat bewirft, eine alte Freundin am Busen begrapscht und am Ende eine blutige Keilerei anzettelt.

Was steckt hinter diesem Amoklauf? Ehrlicher Lebensekel, verlogenes Selbstmitleid, ein lockerer Sparren im Oberstübchen? Je nach Standort des Zuschauers, sind verschiedene Deutungen möglich. Die extreme Linke wird ihn als längst fälligen Schlussstrich unter ein berufliches und familiäres Zwangssystem werten, zumal der Gewaltakt mit ätzenden Angriffen wider die bürgerliche Doppelmoral unterfüttert ist. Auf der Gegenseite dürfte der vulgäre Wüterich ein glasklarer Fall für die geschlossene Psychiatrie sein.

Allerdings streuen Regisseur Jean Becker („Dialog mit meinem Gärtner?) und Hauptdarsteller Albert Dupontel schon früh Hinweise, dass Antoine weder zum heldenhaften Anarcho noch zum durchgeknallten Irren taugt. Bis hierhin ist „Deux jours à tuer?, so der Originaltitel des vom Tübinger Arsenal-Verleih in die deutschen Kinos gebrachten Films, jedenfalls eine höchst beunruhigende Fallstudie.

Nach seinem sozialen Selbstmord stiehlt sich der Delinquent in die freie irische Natur davon, wo sein Vater in einer Holzhütte einsiedelt. Doch auch in diesem vermeintlichen Aussteiger-Idyll reißen die Irritationen nicht ab: Warum kriegt Moralverächter Antoine plötzlich den Moralischen und überhäuft seinen alten Herrn mit Vorwürfen, weil dieser ihn als Teenager im Stich gelassen hat?

Recht abrupt lüftet Regie-Routinier Becker dann den Schleier über dem großen Geheimnis, und nimmt der Geschichte mit dieser ? formal und inhaltlich ? konservativen Auflösung viel von ihrer Schärfe. Andererseits wird das traurig-versöhnliche Finale so beiläufig verabreicht, dass es die Unheimlichkeit dieses von Dupontel glänzend gespielten Charakters nicht entscheidend behelligt.

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