Eine Provinzkindheit als psychedelischer Bilderwirbel mit einer Prise David Lynch.

Tarnation

Eine Provinzkindheit als psychedelischer Bilderwirbel mit einer Prise David Lynch.

24.11.2015

Von Dorothee Hermann

Tarnation

Was tut man, wenn das eigene Leben von Anfang an einem bösen Traum gleicht? Jonathan Caouette rettet sich mit einer Kamera. Schon der Elfjährige inszeniert sich als misshandelte Hausfrau und macht das Home-Movie zur Bühne tatsächlich erfahrener oder vielleicht auch nur geahnter Gewalterfahrungen. Die Realität ist in „Tarnation? eine ziemlich ungesicherte Angelegenheit. Traum, Horrorfilm, Punk, Familienfotoalbum und Pop Art wirbeln durcheinander, versetzt mit einer Prise David Lynch. Als Teenie sieht man Jonathan in einer Musicalfassung von „Blue Velvet? im Schultheater.

Seine Mutter Renee ist so schön, dass sie das Zeug zur Hippie-Ikone gehabt hätte, lauerte da nicht diese Panik in ihrem Blick. Für ihre kleinbürgerlichen Eltern in Houston/Texas ist Renee eine so verstörend unberechenbare Erscheinung, dass sie sie der Psychiatrie überantworten, wo sie über Jahre hinweg massiven Elektroschockbehandlungen ausgesetzt ist.

Schließlich nimmt sie sich mit einer Überdosis Lithium das Leben. Der Film ist auch ein Versuch, die Vorgeschichte dieses Suizids zu rekonstruieren. Es bleibt das Geheimnis des jungen Filmemachers, wie er es schafft, dass Aufnahmen seiner Großeltern ? in völlig banalen Situationen ? einen so bizarr wie aus einem Horrorfilm anspringen.

Die Gegenwelt heißt New York. Anfang 20 schafft Jonathan den Absprung. Dass er schwul ist, mag ihn zusätzlich angetrieben haben. Klar, dass er im Film auch seine Erotik souverän inszeniert. Als Renee ihn in New York besucht, wirkt sie zum ersten Mal nicht abseitig, sondern zugehörig ? ohne dass sie irgendetwas Besonderes dafür getan hätte.

Die traumähnliche Bildsprache verbirgt eine außerordentliche technische Versiertheit. Man kann den Eindruck gewinnen, als folgte das Konstruktionsprinzip der Bilderfluten des Films einer berühmten Zeile aus Shakespeares „Sturm?: „We are such stuff / as dreams are made on? ? dabei ist Caouettes Stoff bloß eine verdrehte Provinzkindheit im lebensbedrohlich engen Texas. Für keinen von Renees Träumen gibt es ein gutes Erwachen; erst Jonathan gelingt es, für den Wirbel der verstörenden Bilder die eigene Ordnung zu finden