Tübingen

Theorie

Volker Ullrich, langjähriger Leiter des Ressorts „Politisches Buch“ bei der „Zeit“, hat sich in die Reihe der Hitler-Biographen eingereiht und war Lese-Gast beim Tübinger Bücherfest („Hitlers latente Talente“, 9. Juli, Regionale Kultur).

20.07.2019

Von Gebhard Bock, Tübingen

„Je mehr Hitler der Verführer ist, umso entlasteter werden die Deutschen“, sagt Volker Ulrich. Wenn es denn so einfach wäre. Will er die überwunden geglaubte Theorie von der Kollektivschuld wieder einführen? Kann man tun, aber dann bitte mit der richtigen Definition.

Kollektiv macht sich schuldig, wer als Kollektiv handelt. Soweit so einfach. Das Kollektiv bietet freilich Schutz und Nestwärme, ist aber auch das Fundament
von Machtstrukturen. Kollektives Empfinden ist eine archaische Etappe des Menschwerdens, zugleich der Anfang des Weges zum individuellen Bewusstsein. Der Mensch steht zwischen Unfreiheit im Kollektiv und der absoluten Freiheit, die er nur in der Einsamkeit erreicht (und dort ist er sein eigener Gefangener). Politisch orientierte Kollektive sind unverzichtbar, stellen sich indessen gegen unsere Individualität. (So in meinem Buch „Die Schuld des Schweigens“.)

Gefährlich ist die überhöhte Idealisierung, bei deren Durchsetzung die individuelle Verantwortung hinter das verkündete „Ideal“ gestellt wird. So zum Beispiel geschehen mit dem Blut-und-Boden-Geschrei der Nationalsozialisten. Aber auch heute sind wir gefährdet. Der absolut freie Mensch braucht ethische Qualitäten, die ihm noch nicht gegeben sind. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Menschwerdung ist unvollendet. So bleibt es, unsere Individualität zu entwickeln, um die individuelle Schuld zu erkennen. Kollektivschuld mit ethnischer Verortung lässt sich vom Rassismus nicht trennen und ist deshalb abzulehnen.